der Freitag: Sie behandeln Demütigung sowohl als Gefühl als auch als Machttechnik. Wie funktioniert das?
Ute Frevert: Wer eine andere Person demütigt, vor allem öffentlich, tut das, um Macht zu beanspruchen, zu erwerben und zu bestätigen. Dazu gehört auch, die Ohnmacht des Gegenübers zu demonstrieren. Ob sich das Gegenüber aber gedemütigt fühlt, hängt von mehreren Faktoren ab. Eine davon ist die Reaktion der Öffentlichkeit, die zuschaut.
Der Pranger ist längst aus der Gesellschaft verschwunden. Er findet aber ein Weiterleben in den Medien. Sind solche Techniken der Demütigung gesellschaftlich wichtig? Wie kommen sie vor?
Dass diese Techniken gesellschaftlich wichtig sind, würde ich bezweifeln. Eine Gesellschaft ohne sie wäre zweifellos lebenswerter, anständiger, zivilisierter. Warum sie dennoch en vogue sind, obwohl sich europäische Gesellschaften seit fast 200 Jahren von Pranger, Brandmarkung und öffentlicher Auspeitschung verabschiedet haben? Dahinter steht erstens ein offenbar verbreitetes Bedürfnis, den eigenen Status durch die Erniedrigung und Ausgrenzung anderer zu behaupten; zweitens die Lust der Voyeure, des Publikums, solche Demütigungen an anderen zu beobachten; und drittens, ganz stark in unserer Gegenwart, der individuelle Zugriff auf soziale Medien, die Demütigung per Mausklick ermöglichen und ihr eine schier unbegrenzte Verbreitung sichern.
Zur Person

Foto: imago/Hans Sicherhaufer
Ute Frevert ist Historikerin und leitet den Forschungsschwerpunkt „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sie schrieb unter anderem Frauen-Geschichte (1986), Die kasernierte Nation (2001) und Vertrauensfragen (2013)
Lange schwiegen Frauen aus Angst vor Demütigungen über ihre Erlebnisse mit Belästigung oder Vergewaltigung. Mit #MeToo scheint es für viele möglich, ihre Angst zu überwinden.
Es ist eher andersherum: Die Frauen schwiegen, weil sie die Demütigung, die ihnen die Belästigung zugefügt hatte, nicht mitteilen wollten und konnten. Das hat mit dem verzwickten Verhältnis von Demütigung und Scham zu tun. Wer gedemütigt wurde, hat sich selber als ohnmächtig erfahren. Das löst, gerade in einer modernen, auf die Autonomie des Individuums pochenden Gesellschaft, Scham aus. Frau schämt sich ihrer erzwungenen Passivität, ihres Ausgeliefertseins – und fühlt sich in ihrer Persona beschädigt, zerstört. Anstatt Wut auf denjenigen zu empfinden, der ihr das angetan hat, schämt sie sich ihrer selbst. Mit dem Schritt in die Öffentlichkeit wird diese Scham überwunden – „Die Scham ist vorbei“, wie Feministinnen schon vor fast einem halben Jahrhundert proklamiert haben. Leider dauert diese Scham doch bis heute an.
#MeToo hat großes Interesse in Deutschland erregt, die Zahl der betroffenen Männer ist aber viel kleiner als in den USA. Warum?
Deutschland hatte ja bereits vor fünf Jahren seinen Sexismus-Skandal; das Hashtag #aufschrei hat damals über Twitter weit gestreut, und die Debatte ist rasch von traditionellen Medien und der Politik aufgegriffen und weitergeführt worden. Damals ging es sehr viel mehr um Alltagssexismus als um die Erlebnisse von und mit Superstars. Der Hollywood-Glamour hat der amerikanischen Kampagne einen ungleich prominenteren Start verschafft – ob sie tatsächlich mehr bewirken wird als #aufschrei, das wird man sehen. Die Argumente dafür und dagegen waren bzw. sind in beiden Fällen ziemlich ähnlich. Allerdings scheinen mächtige Männer in den USA jetzt stärker verunsichert zu sein, als sie das in Deutschland je waren (wo ihnen der damalige Bundespräsident mit dem schlimmen Wort vom „Tugendfuror“ die Stange gehalten hat).
Aber spricht nicht das Verhalten Donald Trumps und seiner Anhänger gegen diese These?
Die amerikanische Gesellschaft ist in dieser Hinsicht gespaltener als die deutsche. In Deutschland wäre ein Präsidentschaftskandidat, der sich seiner Übergriffe gegen Frauen rühmt, untragbar. In den USA ist der Protest sogar noch lauter, aber er erfasst nur die eine Hälfte der Bürgerinnen und Bürger. Die andere Hälfte sieht es Trump nach – Männer seien eben so.
Stehen Harvey Weinstein und Aziz Ansari am neuen Pranger?
Wer an den klassischen Pranger gestellt wurde, musste den Mund halten und das, was ihm geschah, über sich ergehen lassen. Die beschuldigten Männer heute können sich wehren, ihre Sicht der Dinge kundtun, sich entschuldigen – sie sind nicht zur Passivität verdammt, nicht machtlos. Sicher ist es für sie nicht angenehm, öffentlich namhaft zu werden als jemand, der Frauen belästigt haben soll. Aber sie sind allesamt zu prominent, als dass sie sich davon in ihrer Existenz bedroht fühlen müssten. Im Fall Ansari findet im Übrigen eine sehr kontroverse Debatte darüber statt, ob das, was die anonyme Frau als übergriffig empfunden hat, auch tatsächlich übergriffig und demütigend war. Was die „allgemeineren“ Probleme angeht – wenn die Debatte Licht darauf wirft, was in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern schiefläuft, dann bieten gerade solche öffentlich verhandelten Beispiele gutes Anschauungs- und Lernmaterial.
Oft liegen Jahre zwischen Tat und Anschuldigung. Was ist der rechtliche Status öffentlicher Demütigung, wenn eine gerichtliche Klärung ausgeschlossen ist?
Das fragen Sie besser eine Juristin, zumal die Rechtslage international sehr unterschiedlich ist. Das deutsche Strafgesetzbuch kennt den Straftatbestand der Verleumdung. Also könnten sich Männer, die sich zu Unrecht bloßgestellt fühlen, auch gerichtlich dagegen wehren. Aber in der Regel geht es ja nicht um „unwahre Tatsachen“, die „wider besseres Wissen“ behauptet werden. Es geht um Verhaltensweisen, die der eine Part als legitim erachtet und der andere als entwürdigend. Wie man diese beiden Wahrnehmungen miteinander ins Benehmen setzt – das ist die eigentliche Herausforderung, und die lässt sich nicht im Medium des Rechts bewältigen.
Info
Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht Ute Frevert S. Fischer 2017, 336 S., 25 €
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