In ihrem Buch Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton spürt Ethel Matala de Mazza den Anfängen des Showgeschäfts nach. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin zeigt, wie auch Genres, auf die die Kritik oft herabblickt, bis heute politische Relevanz besitzen.
Der Freitag: Frau Matala de Mazza, wer paktiert in ihrem Buch mit wem?
Ethel Matala de Mazza: In meinem Fall drei Koalitionspartner. Feuilleton und Operette verbünden sich mit dem Publikum. Das Publikum darf man aber nicht als bloßen Zahlenfaktor verstehen, denn es handelt sich ja um eine relativ junge soziale Größe.
Seit wann gibt es das Publikum?
In meinem Buch ist die Französische Revolution dafür ein Stichdatum. Da läuft in Paris auf den Straßen eine Masse auf, die Hitze entwickelt, sich Macht verschafft und später zum normalen Stadtalltag gehört, als Begleiterscheinung der wachsenden Industrie. Und das verändert auch die Stadtkultur.
Das ist die Geburt einer städtischen Populärkultur?
Ich nehme mir davon nur einen Ausschnitt vor, wenn ich mich auf die Theaterszene und die Feuilletonpresse beschränke, und zwar eben auf die Sparten der Publikumsrenner. Mich interessiert zunächst einfach das ‚Dass’ ihres Erfolgs, der breite Zuspruch von Leuten verschiedenster Couleur, auf den das Populäre aus ist. Man kann ein solches barrierefreies Angebot banal finden, aber dann übersieht man, dass darüber ja eine demokratische Reserve mit angezapft wird.
Wieso gerade die Operette?
Die Verbindung wirkt nur auf den ersten Blick obskur. Ich kam übers Feuilleton zur Operette, genauer gesagt, über Siegfried Kracauers Feuilletons. Die entstanden in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren. Kracauer war damals bei der Frankfurter Zeitung. Ein Journalist mit viel Ehrgeiz, der im Feuilletonressort die Kulturkritik profiliert, durch Rezensionen von Neubauprojekten, Bestsellern, Revue- und Varietéveranstaltungen, Massensportevents. Dann kamen Artikelserien über das urbane Vergnügungs- und Arbeitsleben dazu. Texte, die über ihre Sprachsensibilität, ihren Schreibstil auffallen und Augen öffnen. Kracauer war Dauergast im Kino, hatte dort wohl auch seinen Erstkontakt mit Operetten. Das sieht man an seinen Besprechungen, in denen die Filme meist nicht gut wegkommen.
Kracauer ist als Stichwortgeber der kritischen Theorie bekannt.
Trotzdem liest man da nicht nur einen Ideologiekritiker, der bei anderen Frankfurtern in der Schule gesessen hat. Kracauer verhandelt immer auch Schicksalsfragen der Weimarer Demokratie, wenn er den Mainstream beobachtet. Später im Pariser Exil schreibt er ein Buch über Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Da findet sich dieser Doppelblick wieder. Das Feuilleton der Pariser Stadtpresse spielt in diese Geschichte hinein. Der Spur wollte ich nachgehen.
Wohin führte die Spur?
Es gibt gemeinsame Milieuverhaftungen. Das Feuilleton taucht in der Presse früher auf als die Operette auf der Bühne. Aber beide sind Pariser Gewächse, und beide gedeihen auf dem Boulevard. Das gilt später übrigens auch für Wien und Berlin. Das französische Wort „Boulevard“ kommt vom Bollwerk, eine Reminiszenz an die Festungsmauren, die geschliffen wurden, um für breite Straßen Platz zu schaffen. Aber auch an ein Programm der Prävention, zumindest in Paris. Denn Mitte des 19. Jahrhunderts wurden durch die alten Hochburgen des Straßenkampfes Großachsen geschlagen, die schlecht für den Barrikadenbau waren, aber ideal als Ausgehmeilen mit hohem Publikumsverkehr.
Also Flaniermeile statt Straßenkampf?
Auf dem Boulevard lösen sich insofern ganz unterschiedliche Massenbewegungen ab. Und Feuilleton und Operette choreographieren diese Bewegungen mit. Sie beäugen und verbünden sich in ihrer Rolle als Trendsetter und Taktgeber der Menge. Dann verbindet sie als Markenzeichen die witzige Attitüde, der Tanz mit Worten. Bei der Operette gibt es dazu Tanzhits. Das war die Popmusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Unterhaltungsmusik hat es im Feuilleton immer noch schwer.
Bezeichnenderweise lauten dann auch die Negativurteile von Kritikern ähnlich: „oberflächlich“, „leicht“, „unseriös“, „anspruchslos“, „kommerziell“. Als würde es nicht auch bei Oper oder ‚großer‘ Literatur ums Geschäft gehen. Trotzdem bleibt die Schwelle zwischen High und Low empfindlich. Politisch gilt das Plebiszit als legitim, auch wenn das derzeit dubiosen Volkstribunen nutzt. Ästhetisch behält die Abstimmung mit Füßen bzw. an der Kasse etwas Heikles.
Wie verhält sich denn das Populäre zum Populismus?
Der Begriff des „Populismus“ ist durch den hohen Verschleiß arg strapaziert. Und so simpel, wie es aussieht, ist der Konnex nicht. Natürlich schielen Populisten auf den großen Zulauf. Die brauchen die Mobilisierung auf der Straße oder ihre lautstark rumorende Gemeinde im Netz. Man kann sich als Politiker aber nach wie vor auch anders beliebt machen und muss nicht den Volkszorn anheizen oder in der Kloake des Ressentiments wühlen. Schauen Sie sich die letzten Umfragen an. Da liegt hier jemand wie Habeck vorn.
Die AfD feiert trotzdem Erfolge.
Ich will den allgemeinen Rechtsruck damit nicht kleinreden, der Egomanen und Autoritären in die Hände spielt. Das macht Allianzen unter denen umso notwendiger, denen Meinungspluralismus und Solidarität wichtig sind. Je breiter diese Bündnisse, desto besser. Ich finde es deshalb auch aktuell interessant zu beobachten, wie Größen aus dem Showgeschäft sich auf den politischen Klimawandel einstellen. Viele treten ja mit offenem Visier an die Rampe und riskieren den Shitstorm. Und genauso gibt es Umarmungsgesten seitens der Politik, besonders an die Adresse von Musikern. Die müssen dann abwägen, ob ihre Fangemeinde sich durch solche Betätigungen vergrößert oder verkleinert. .
Hätten Sie Beispiele für uns?
Eine ganze Reihe sogar. Mir fällt Trumps Amtseinführungsfeier ein, wo eine schwarze R&B-Sängerin die Auftrittsanfrage annahm, während andere dankend ablehnten, und bis heute um ihr Comeback kämpft. Oder das Schlagerfestival von Sanremo jetzt Anfang Februar, wo der Direktor, einer von Italiens Lieblingsschnulzensängern, sich einen kritischen Kommentar zu Salvini erlaubte und Boykottaufrufe erntete. In Berlin kam letztes Jahr der Friedrichstadt-Palast in die Schlagzeilen, weil der Intendant keine AfD-Wähler im Publikum sehen wollte und das seinen Mitarbeitern schrieb. Prompt gab es Bombendrohungen, als das rauskam. Aber eben auch neue Besucher in den Vorstellungen, neben den AfD-Wählern, die dann doch wieder eingeladen wurden.
Wer waren die neuen Besucher?
Unter den Neuen waren Feuilletonautoren, die staunend feststellten, dass die Glitzerrevuen bunt und üppig, aber nicht bloß seicht waren. Dasselbe kann man auch von den Operetten sagen, die ich mir anschaue. Das sind Musikkomödien, in denen die Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden, wenn sie nicht ohnehin schon wanken. In denen Bewegungsfreiheit zelebriert wird, sozial und körperlich. Ich frage da weniger nach den politischen Überzeugungen der Komponisten und Autoren als nach dem Spielraum der Akteure in den Stücken und der Aufweichung der Herr-Knecht-Verhältnisse, die ja seit jeher zur Komödientradition gehören. Das interessiert mich als Teil einer Demokratiegeschichte, an der die Unterhaltungsbühnen beteiligt sind. Und auch die Feuilletonpresse, denn dort gab es für so etwas schon früh ein Sensorium.
Hatte die Operette in der Naziszeit auch daher einen schwereren Stand als zuvor?
Die Nazis hatten es vor allem auf die zahlreichen Juden unter den Komponisten, Librettisten und Sängern abgesehen, die das Genre prägten. Im Feuilleton war das übrigens ähnlich. Bei den Kritikern dieser kleinen Prosa äußerte sich der Antisemitismus oft ganz unverblümt. In der NS-Zeit werden den Theatern regelrechte „Spielplansäuberungen“ verordnet, was nicht heißt, dass Operetten per se verschwinden, denn dazu war das Genre zu beliebt.
Wie veränderte sich die Operette in Hitler-Deutschland?
Erwünscht sind jetzt Stücke, die sich ideologisch linientreu und nicht frivol geben. Operetten mit sentimentaler Note, die das gute alte Wien verklären. Da gab es aus Österreich schon einige Vorbilder. Hitlers Lieblingsoperette, Die lustige Witwe, passt in dieses Schema allerdings nicht. Da steht ein Lebemann vom Balkan im Zentrum, dem Heimat und Vaterland eigentlich egal sind. Wenn es stimmt, was Johannes Heesters in seinen Memoiren ausplaudert, hat Hitler die Rolle heimlich zuhause geprobt. Das muss man nicht psychologisch deuten. Der Bühnengigolo erklärt den Führer nicht. Er verkörpert aber auf schräge Weise ein Wunschbild. Verstörend an der Anekdote ist, dass sie vermuten lässt, das Wunschbild sei für Hitler selbst reizvoll geblieben, aber bei den Millionen, die ihn wählten, nicht mehr populär genug. Jedenfalls nicht mehr als Ausdruck eines Unabhängigkeitsideals, das über die Bühne hinaus trägt. Der Pakt, den ich beschreibe, platzt zwangsläufig, wenn das Publikum ihn aufkündigt.
Zur Person
Ethel Matala de Mazza, Jahrgang 1968, lehrt Neuere deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität. Sie ist Mitglied im Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Ihr Buch zu Feuilleton und Operette erschien 2019 bei Fischer
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