Auf Sand gebaut

Irak Mit der Truppenentsendung in die Provinz Muthanna verabschiedet sich Japan von seiner Nachkriegsverfassung

Die Truppe ist kleiner, als ich dachte. Ich nahm an, sie würden viele Bulldozer brauchen, kommen sie doch, um Samawah wieder aufzubauen." Mit diesen Worten brachte ein 40-jähriger irakischer Lehrer auf den Punkt, was viele Ortsansässige dachten, als vor Wochenfrist die ersten 60 Soldaten der japanischen "Selbstverteidigungsstreitkräfte" schwer gepanzert in die Hauptstadt der südirakischen Provinz Muthanna einrückten.

Glaubt man der Regierung in Tokio, dann werden sich die Hoffnungen der Einwohner von Samawah spätestens Anfang März erfüllen, wenn das japanische Irak-Korps seine vorerst endgültige Stärke von 550 Mann erreicht hat und sich voll und ganz dem widmen kann, was Premier Junichiro Koizumi unlängst das "entscheidende Motiv" des ersten regulären Auslandseinsatzes japanischer Streitkräfte nach dem II. Weltkrieg nannte: Man will im Zweistromland die medizinische Betreuung der lokalen Bevölkerung sichern sowie Straßen und Wasserleitungen reparieren.

Eine noble Absicht. Allein, die Umstände der Truppenentsendung lassen wenig Begeisterung aufkommen. Die Rigorosität, mit der Koizumi seine Irak-Politik im Parlament durchsetzt, verhindert eine Debatte über japanische Sicherheitspolitik, die nicht auf amerikanische Geopolitik fixiert bleibt. Eine Situation zu provozieren, in der Abgeordnete genötigt werden, über einen Auslandseinsatz nationaler Streitkräfte abzustimmen, der bereits begonnen hat, offenbart keinen guten Stil und erscheint letzten Endes ebenso verantwortungslos wie die Zusicherung, die verlegten Soldaten würden fern der Heimat ausschließlich friedliche Aufbauarbeit leisten. Da war bereits durchgesickert, dass die Einheiten den Amerikanern als überaus geeignetes Personal für alliierte Waffen- und Munitionstransporte empfohlen wurden.

Mit dem Irak-Einsatz japanischer Soldaten kulminieren die in letzter Zeit verstärkten Bemühungen konservativer Kreise des Tokioter Establishments, die geltende "Friedensverfassung" von 1946 zu unterlaufen. Das gilt besonders für eine Revision von Artikel 9, der Japan verpflichtet, für immer auf Kriege und die Androhung von Gewalt zu verzichten, wenn es um internationale Streitigkeiten geht. Für Koizumi Co. offenbar ein unhaltbarer Zustand, der zu korrigieren ist. Der amerikanische Irak-Feldzug bietet dazu eine willkommene Gelegenheit: "Wenn wir die Verfassung schon nicht ändern, so könnten wir sie doch wenigstens neu interpretieren", sinnierte Koizumi kürzlich im Unterhaus. Dass er damit vorrangig eine Neuinterpretation des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung meint, zeigt die Truppenverlegung in den Irak: Allein schon die bloße Präsenz japanischer Truppen zwischen Euphrat und Tigris ist eindeutig verfassungswidrig, da laut Befehl Nr. 17 der US-Zivilverwaltung in Bagdad nicht-irakisches Militärpersonal grundsätzlich als "Koalitionspersonal" gilt, wodurch die Japaner zur aktiven Kriegspartei werden - unabhängig davon, wie sie im einzelnen agieren.

So lassen sich vollendete Tatsachen schaffen, die von den in Tokio regierenden Liberaldemokraten als "neue Realitäten" gedeutet werden, denen man durch Verfassungsänderungen Rechnung tragen müsse. Schon Ende 2003 war in Japan ein Gesetzespaket beschlossen worden, das den Status der Streitkräfte diskret, aber wirkungsvoll aufwertete, indem die Obliegenheiten des Nationalen Sicherheitsrates auf Kosten des Parlaments verändert wurden. Danach sind militärische Maßnahmen nicht erst im Falle eines tatsächlichen "Angriffs" auf das eigene Territorium zulässig, sondern bereits dann, wenn eine "Situation" eintritt, in der "ein Angriff als unabwendbar empfunden wird". Für diesen Fall wurde der Handlungsspielraum der Selbstverteidigungsstreitkräfte großzügig erweitert.

Künftig soll die Armee ihre neuen Möglichkeiten auch dadurch effizienter wahrnehmen können, indem die Teilstreitkräfte - Heer, Luftwaffe, Kriegsmarine - koordinierter handeln. So entstand schon 1997 mit dem "Stab der Verteidigungsaufklärung" das erste vollständig integrierte Militärorgan der Nachkriegszeit. Seit zwei Jahren wird zudem darüber debattiert, den nur noch symbolischen "Vorsitzenden des Vereinigten Komitees der Stabschefs" durch einen mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten "Chef des Vereinigten Stabes" zu ersetzen.

Parallel dazu hat eine technologische Umrüstung der Streitkräfte begonnen, deren Priorität in einer weltraumgestützten Aufklärung besteht. Zwei Spionagesatelliten sind bereits im erdnahen Raum platziert. Bis 2009 sollen sechs weitere folgen. Ein Präventivschlag-Potenzial gegen Raketenbasen fremder Staaten ist im Gespräch, das sich auf ein in Kooperation mit den USA zu entwickelndes integriertes land- und seegestütztes Raketenabwehrsystem stützt, in das Japan bis 2011 beachtliche acht Milliarden US-Dollar investieren will. Um den dafür notwendigen Technologietransfer sicherzustellen, bemüht sich Koizumi seit geraumer Zeit um eine nachhaltige Lockerung des strikten Waffenexportverbots von 1967. Anderen geht dies nicht weit genug: Es wäre jammerschade, lamentierte Verteidigungsstaatsminister Shigeru Ishiba jüngst während einer Europa-Reise, wollte die EU wehrtechnologisch nur mit Russland kooperieren.

Tokio scheint heute entschlossener denn je, militärpolitisch neue Wege zu gehen. Die Präsenz im Irak gilt als ideale Möglichkeit, diesbezüglich ein gutes Stück voranzukommen.


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