"Herzlichen Glückwunsch zum neuen Oberkommandierenden!" Mit diesen Worten brachte die populäre Moskauer Militär-Rundschau die Stimmung im Land nach Dmitri Medwedjews Ernennung zum "Präsidenten im Wartestand" auf den Punkt. Verstohlener Zynismus statt öffentlichen Aufbegehrens. Wer geglaubt hatte, auch in Russland gebe es inzwischen so etwas wie zivilgesellschaftlichen Ungehorsam, sah sich eines Besseren belehrt. Bestätigt hingegen fühlten sich all jene, die seit langem Russlands ungebrochene Sehnsucht nach "Ruhe, Ordnung und einer starken Hand" ausgemacht hatten.
In der Tat belegen Umfragen zum Jahresende, dass Russlands Bevölkerung Demokratie und Freiheit nicht zusammen denkt: Lediglich 20 Prozent der Befragten halten Demokratie für einen zentralen Wert. Rund 50 Prozent hingegen schätzen Freiheit als hohes Gut, wobei darunter vorzugsweise der Wille von Individuen verstanden wird, sich nicht gesellschaftlich vereinnahmen zu lassen. Nach Meinung russischer Soziologen steht Freiheitswille für Flucht vor der bestehenden und nicht für Suche nach einer alternativen Gesellschaft. Zugleich lasse sich der Begriff "Freiheit" nicht vom Begriff "soziale Gerechtigkeit" trennen: Vorrangig in Zeiten revolutionärer Umbrüche impliziere "Freiheit" statt maximal entfalteter Individualität soziale Egalisierung - sprich: ausgeglichene materielle Besitzstände.
Auch in Russland wird Demokratie mit der Verteidigung von Menschenrechten in Verbindung gebracht, jedoch versteht man unter "Menschenrechten" etwas anderes als im Westen: Zuvörderst sind materielle Rechte gemeint, etwa auf Bildung und soziale Sicherheit, auf bezahlte Arbeit und garantierte Mindestabsicherung. Der Soziologe Juri Lewada ist überzeugt, ein wesentliches Merkmal der russischen Demokratie bleibe die "Wahrung von Ordnung und Wohlstand". In der Vorstellung der meisten Russen sei deshalb das Verhältnis zum Staat grundsätzlich ökonomisch determiniert - die Staatsmacht werde als Instanz begriffen, die soziale und wirtschaftliche Rechte generiere und deren Inanspruchnahme garantiere. Nach 70 Jahren Sowjetmacht - so der Historiker Wladimir Buldakow - sehne man sich nicht nach Demokratie, sondern nach "komfortabler Verantwortungslosigkeit". Der Durchschnittsrusse wolle einen Führer, der "progressive Gratisversorgung bei maximaler persönlicher Absicherung" biete.
Richtig beobachtet - aber lässt sich daraus schon ein fundamentaler Widerspruch zwischen der politischen Kultur Russlands und der im Westen konstruieren? Russlands politische Praxis, so der selbsternannte Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, zeichne sich durch mindestens drei Besonderheiten aus: ein Streben nach politischer Ganzheitlichkeit dank einer zentralisierten Macht, eine Idealisierung politischer Ziele sowie die Personifizierung politischer Institutionen. Eine Steilvorlage für all jene, die schon immer wussten, dass Russland zu "echter Demokratie" prinzipiell nicht fähig sei und deshalb niemals zur "westlichen Wertegemeinschaft" gehören könne. Nationale Kulturen und Mentalitäten - erwidert darauf Jewgeni Primakow, Mitglied der Moskauer Akademie der Wissenschaften - seien nichts Statisches, sondern näherten sich objektiv einander an. Dies gelte auch für verschiedene Demokratie-Typen im Zeitalter der Globalisierung.
Derzeit gilt: Viele Russen ziehen die individuelle Freiheit einem bürgerschaftlichem Engagement vor, pflegen ein sehr materialistisches Verhältnis zur Demokratie, schätzen soziale Sicherheit mehr als Presse- und Versammlungsfreiheit. Unterscheiden sie sich dadurch wirklich essentiell vom Durchschnittsbürger in der EU?
Sollte es im Westen je einen "mündigen Bürger" gegeben haben, wurde der längst vom individualisierten Konsumenten verdrängt. Oder um es mit den Worten des Philosophen Zygmunt Bauman zu sagen: Dem Individuum ist es gelungen, den gesellschaftlichen Raum zu kolonisieren, ihn zur Projektionsfläche privater Sorgen und Nöte zu machen. Die Staatsmacht wiederum räumt Straßen und Plätze, verabschiedet sich aus Hörsälen, Parlamenten und Regierungen in die bürgerschaftlich unkontrollierbare Exterritorialität elektronischer Netzwerke. Identitätsfindung reduziert sich auf eine unendliche Kette diskreter Kaufakte - Individualität und Konsumtion bedingen einander, formen gemeinsam die dominante Rationalität dessen, was Bauman "verflüssigte Moderne" nennt. Ihr zu entkommen, ist unmöglich. Eine Tragödie besonders für die Armen: Je höher der Grad der Freiheit auf den Bildschirmen, je verführerischer die Geschäftsauslagen, umso tiefer die Sehnsucht der Minderbemittelten, zumindest für einen Moment das Glück der freien Wahl zu spüren. Je größer die vermeintliche Wahlfreiheit der Reichen, umso verhasster allen anderen ein Leben ohne Wahlmöglichkeit.
Nichts anderes passiert auch in Russland, nur hemmungsloser und ungeschminkter: Deutlicher als in Westeuropa verhindert persönlicher Egoismus Zivilcourage, werden Menschen ungeachtet ihrer realen Möglichkeiten zu Individualisierung und Massenkonsum gezwungen - mit verheerender Wirkung auf die Stabilität des sozialen Gesamtgefüges.
Russland ist drauf und dran, zum Alter Ego der westlichen Konsumgesellschaft zu werden. Eine der Ursachen für die nicht nur in Deutschland um sich greifende Russland-Phobie: Der Blick nach Russland gleicht zunehmend einem Blick in den Spiegel, der das brutale Wesen westlicher Wirtschaftspraxis offenbart und das lieb gewonnene Klischee von der kulturellen Überlegenheit des Westens ad absurdum führt.
Die Kreml-Elite scheint sich indes der ungeheuren sozialen Verwerfungen im Land und der damit verbundenen hohen Erwartungen der Bevölkerung an die Staatsmacht durchaus bewusst zu sein. Die antisozialen Reformen Putins weich zu spülen und damit den Staat formal als Stifter sozialer Stabilität aufrechtzuerhalten, dürfte ein Grund für die Nominierung des "Volksverstehers" Medwedjew gewesen sein: In den kommenden vier Jahren, so Boris Gryslow, Vorsitzender der Kreml-Partei Einheitliches Russland, müsse der Bürger spüren, dass sein Lebensstandard der Exekutive am Herzen liege. Dank hoher sozialer Kompetenz sei Medwedjew wie kein Zweiter geeignet, dies zu bewirken.
Personalrochaden allein dürften jedoch kaum ausreichen, Russlands tickende soziale Bombe zu entschärfen. Notwendig wäre ein adäquates Verständnis der überaus widersprüchlichen Verhältnisse im nachsowjetischen Russland, um zu begreifen: Augenblicklich wird ein Gesellschaftssystem favorisiert, das ungezügelten Massenkonsum hofiert und Politik jeglicher sozialer Dimension beraubt. Dabei wird es wenig hilfreich sein, das vorrevolutionäre Russland von Tolstoi und Puschkin beschwören zu wollen. Denn solange Politiker und Intellektuelle westliche Kritik ausschließlich als Angriff auf Russlands "traditionelle nationale Werte" deuten, werden sie unfähig sein, dem Land reale Auswege aus einer nationalen Systemkrise zu weisen.
Peter Linke leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau.
Besseres Geschäftsklima
Die Erwartungen in Russland engagierter deutscher Unternehmer für 2008 sind ausgesprochen positiv - so das Ergebnis einer Umfrage, die der Ost-Ausschuss (OA) der Deutschen Wirtschaft Ende Dezember in Moskau vorstellte. Sieben von zehn Firmen seien der Meinung, das Geschäftsklima in Russland habe sich verbessert, auch wenn Bürokratie immer noch Sorgen bereite. Wer bereits im Russland-Geschäft aktiv ist, geht außerdem davon aus, dass Putin-Nachfolger Medwedjew nur "in Nuancen" eine andere Wirtschaftspolitik als der jetzige Präsident verfolgen werde.
Eine Milliarde Euro
Inzwischen haben die Investitionen deutscher Unternehmen in Russland bereits ein Volumen von elf Milliarden Euro erreicht - im neuen Jahr dürften sie durch eine Milliarde Euro aufgestockt werden. Es gibt neue Investitionsprojekte in der Lebensmittel- sowie der Baustoffindustrie und Petrochemie. Angesichts des stark wachsenden russischen Automarktes gäbe es zur Zeit "keinen großen deutschen Automobil-Zulieferer, der nicht mit erheblichen Investitions-Projekten in Russland schwanger ist", so Klaus Mangold, der Vorsitzende des Ost-Ausschusses. 2007 gab es vor allem eine Groß-Investition: Stromversorger E.on übernahm für 4,1 Milliarden Euro die Mehrheit beim russischen Stromkonzern OGK-4.
Attraktiver Markt
Russland bleibt zugleich der am deutlichsten wachsende Exportmarkt für deutsche Produkte. Die Ausfuhren stiegen von Januar bis Oktober 2007 auf 20,3 Milliarden Euro und wuchsen damit im Vergleich zu 2006 um 28 Prozent. Maschinen führen im Ranking der Ausfuhrgüter, gefolgt von Kraftfahrzeugen, Elektronik und Elektrotechnik sowie chemischen Erzeugnissen. Was die Einfuhren aus Russland betrifft - so sind es zu drei Vierteln Energieträger.
Der russische Markt bleibt attraktiv dank einer gestiegenen Kaufkraft, gut ausgebildeter Arbeitskräfte, der eingerichteten Sonderwirtschaftszonen und des geringen Konkurrenzdruck.
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