Das Totenkopf-Business

GEWERBE MIT ZUKUNFT UND SINN FÜR GLOBALISIERUNG Die Piraterie auf den Weltmeeren erlebt seit den neunziger Jahren einen einmaligen Aufschwung

Für die meisten ist es ein Phänomen verflossener Epochen, ein Synonym für Abenteuerlust und Freiheitsliebe, auf das Engste verbunden mit Namen wie Klaus Störtebecker, William Kidd, Anne Bonny, Edward »Blackbeard« Teach oder Henry Morgan. Die allerwenigsten begreifen es als Herausforderung für die maritime und damit internationale Sicherheit des 21. Jahrhunderts.

Als 1718 Tausende Freibeuter ihre Begnadigung durch Woodes Rogers - den Generalgouverneur der Bahamas - dankbar annahmen und sesshaft wurden, läutete dies zwar das Finale des »Goldenen Zeitalters« der Piraterie ein, aber nicht deren Ende: Auch im 19. und 20. Jahrhundert hielten die Glücksritter mit der Totenkopf-Flagge die Seemächte in Atem. Die Gewässer Südostasiens blieben bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fest in ihrer Hand. Nach 1945 ging in der Strasse von Malacca, in der Philippinensee und im Südchinesischen Meer das Rauben und Plündern unerschrocken weiter.

Kidnapping im Südchinesischen Meer - Yachtjacking in der Karibik

Seit Beginn der neunziger Jahre erlebt das internationale Totenkopf-Business einen bis dato einmaligen Aufschwung: Von 1991 bis Mitte 2000 wurden weltweit knapp 1.900 Fälle von See- und Hafenpiraterie registriert - die Dunkelziffer dürfte mindestens doppelt so hoch sein -, Tendenz steigend: Waren es vor zehn Jahren noch 100 Zwischenfälle pro Jahr, so sind es gegenwärtig bis zu 70 im Monat. Die Gründe dafür sind vorrangig sozioökonomischer Natur: In einigen Regionen der Welt behauptet sich Piraterie bis heute als Phänomen der Alltagskultur. Eine zwar illegale, aber allenthalben tolerierte Art des Geldverdienens - manchmal der einzige Weg, das eigene Überleben zu sichern.

Schließlich greift auch in der Schifffahrt eine kategorische Rationalisierung: Wurden vor 20 Jahren für einen Frachter oder Tanker noch um die 50 Mann Besatzung angeheuert, sind es heute - infolge der Automatisierung an Bord wie verbesserter Navigationsinstrumente - noch maximal 25. Dieser Umstand und die Verfügbarkeit preiswerter Schnellboote, Kommunikationsmittel und High-Tech-Waffen erleichtern es Freibeutern, immer ungenierter und brutaler zu agieren. Eine politische Ursache kommt hinzu: Der Zerfall der Sowjetunion und das Ende der globalen Blockkonfrontation führten weltweit zur drastischen Reduzierung von Seestreitkräften. Nordamerikaner und Briten verringerten ihre Flottenpräsenz allein in Südostasien um die Hälfte, während sich Russland vollständig aus diesem Raum verabschiedet hat und entgegen der früheren Praxis darauf verzichtet, seine Fischtrawler durch Kriegsschiffe zu eskortieren. Dies alles trug mit dazu bei, dass in der vergangenen Dekade viermal mehr US-Schiffe Opfer südostasiatischer Piraten wurden, als das zwischen 1980 und 1990 der Fall war. Bei russischen Frachtern und Trawlern erhöhte sich die Zahl der Überfälle sogar auf das Vierzigfache.

Unangefochten bleibt Südostasien die gefährlichste Region der Welt: Knapp die Hälfte aller Übergriffe geschieht hier, vorzugsweise innerhalb der Territorialgewässer Indonesiens, der Philippinen und Thailands. Höchste Vorsicht verlangt auch das Südchinesische Meer. Ein riesiges Aquatorium vol ler unbewohnter Klein- und Kleinstinseln bietet für Piraten ein ideales Revier, zusätzlich attraktiv dank einer gewissen Protektion durch die chinesischen Behörden. So kreuzen in jüngster Zeit verstärkt Piratenschiffe unter der Flagge Chinas die internationalen Schifffahrtsrouten. Es ist längst keine Seltenheit mehr, dass Handelsschiffe auf See gestoppt und unter Androhung von Waffengewalt gezwungen werden, chinesische Häfen anzulaufen, wo sie samt Fracht und Mannschaft so lange interniert bleiben, bis die Schiffseigner erhebliche »Strafgelder« zahlen.

Südamerikas Küstengewässer schienen über lange Zeit von den Attacken einer dreisten Piraterie unbehelligt zu bleiben. Doch die Schonfrist - wenn es die überhaupt je gab - ist längst verstrichen. Heute gilt vor allem die Atlantik-Küste als Mekka des Verbrechens. Allein auf die Häfen von Rio de Janeiro und Santos entfielen seit 1997 mehr als die Hälfte der in diesen Raum registrierten Übergriffe. In der Karibik hat sich die einschlägige Gangsterszene während der vergangenen 30 Jahre auf das »Yachtjacking« - das gewaltsame Entern von Luxusbooten zwecks erpresserischen Menschenraubs und des Drogenschmuggels Richtung USA - konzentriert.

Auch die küstennahen Gewässer Afrikas sind nicht länger »piratenfrei«: 1996 lag die Zahl der Zwischenfälle bei 58. Ein Jahr später waren es bereits 82. Das bisher schwerste Vorkommnis ereignete sich am Neujahrstag 1998, als vor der somalischen Küste ein russischer Fischtrawler aufgebracht und dessen Kapitän ermordet wurde.

In Europa sind es vor allem das Schwarze und das Mittelmeer, die von rigider Freibeuterei heimgesucht werden. Es gehört zwischenzeitlich zu den kaum noch erwähnenswerten Episoden eines bizarren Kleinkrieges auf See, wenn etwa griechische oder italienische Küstenschutzboote von albanischen Seelenverkäufern aus beschossen werden, die sich in ihrem Aktionsradius beschnitten fühlen.

Phantomfrachter mit gefälschten Papieren - kein Schiffstyp gilt mehr als sicher

Neben einer zunehmenden Globalisierung des Piratenbusinesses ändert sich auch dessen konkrete Vorgehensweise: Immer mehr Übergriffe ereignen sich nicht auf hoher See, sondern - dank laxer Sicherheitsstandards und korrupter Administrationen - in Häfen und hafennahen Gewässern, dies bei erkennbar wachsender Gewaltbereitschaft der Täter: 1996 verwies die Statistik auf 30 Seeleute, die bei Anschlägen in Häfen oder auf See getötet wurden. Ein Jahr später waren es schon 45. Der bislang blutigste Zwischenfall ereignete sich im Herbst 1998, als Piraten den Frachter Cheung Son (er fuhr unter panamaischer Flagge) kaperten und 23 Besatzungsmitglieder massakrierten.

Es ist vollauf berechtigt, hier von hochgradig »Organisierter Kriminalität« zu sprechen, die sich eines moderne Equipments und der Vernetzung untereinander rühmen kann. Keine Gang, die nicht wenigstens zehn Piraten rekrutiert. Risikofreudige, erfolgsorientierte Freibeuterei verlangt Teamwork, um immer komplexere Ziele ins Visier zu nehmen: Fähren, Frachter, Containerschiffe, Tanker. Kein Schiffstyp gilt mehr als absolut sicher. Auf See gekaperte Schiffe erfahren oft eine neue Registratur, werden umbenannt, mit gefälschten Frachtpapieren ausgestattet und voll »heißer Ware« über die Meere gelotst. Derartige Phantomschiffe sind der Alptraum eines jeden Zoll fahnders.

Die internationale Reaktion auf diese weltweite Zunahme der See- und Hafenpiraterie ist bisher kaum adäquat: Industrie und Handel weigern sich, das florierende Freibeutertum als ernsthafte Gefahr einzustufen. Nimmt man die momentane Schadensbilanz, ist diese Reaktion (noch) nachvollziehbar: 1998 lag der durch Piraterie weltweit entstandene ökonomische Schaden knapp unter 100 Millionen Dollar - gerade einmal 0,003 Prozent des Geldwertes aller weltweit bewegten Güter oder 32 Cents pro 10.000 Dollar. Zwar betreibt das Internationale Seeschifffahrtsbüro (IMB) der Internationalen Handelskammer (ICC) seit 1992 in Kuala Lumpur ein sogenanntes Piracy Reporting Centre - doch viel mehr, als peinlich Buch über die Ereignisse zu führen, soll dieses Zentrum offenbar nicht.

Zu jenen, die mehr Krisenbewusstsein offenbaren, gehört die Gilde der Schiffseigner: Seit Jahren warnen Organisationen wie der Internationale Schifffahrtsverband (ISF), der Baltic and International Maritime Council (BIMCO) oder das Safe Navigation Committee des asiatischen Reeder-Forums (ASF) in gemeinsamen Memoranden vor »Blackbeards Enkeln«, ohne ihnen wirklich Paroli bieten zu können.

Blieben noch die nationalen Regierungen, die oft versuchen, der Herausforderung im Alleingang oder auf bilateraler Ebene beizukommen. Unlängst hatte Indien der vietnamesischen Regierung vorgeschlagen, im Südchinesischen Meer gemeinsam auf Piratenjagd zu gehen: Umgehend disqualifizierte China derartige Aktionen als »inakzeptabel und anmaßend«. So offerieren private Sicherheitsagenturen wie Special Ops Associates (USA), Kingswood Projects (Großbritannien) oder die in Italien ansässige Security Professionals Academy beunruhigten Schiffseignern ihre Dienstleistungen: Vom »Bodyguarding« auf hoher See bis zur Ausbildung maritimer Scharfschützen. Eine Reihe staatlicher Stellen scheint in die gleiche Richtung zu denken. Etwa in Russland, wo Matrosen der Handels- und Fischereiflotte in speziellen Kursen in die Geheimnisse des bewaffneten Schiffskampfes eingeführt werden sollen.

Doch Gefechte zwischen Schiffsbesatzungen und Piraten dürften kaum der Weg zu mehr Sicherheit auf den Weltmeeren sein. Dringend erforderlich wäre eine konzertierte Aktion der internationalen Gemeinschaft im UN-Verbund. Die Grundlagen dafür wurden bereits Anfang der achtziger Jahre mit der UN-Seerechtskonvention gelegt, die ihre Unterzeichner zu koordiniertem Vorgehen gegen »Organisiertes Verbrechen« auf hoher See verpflichtet. Bliebe das Problem der Küsten- und Hafenpiraterie. Hier können eigentlich nur robuste UN-Seestreitkräfte helfen, die es freilich (noch) nicht gibt. Umso mehr verdient der jüngste Vorschlag der Internationalen Föderation der Transportarbeiter (ITF) Beachtung, eine Blue Helmets Naval Force zu etablieren: einen mobilen Schiffsverband, der dem UN-Sicherheitsrat direkt unterstellt und mit dem klaren Mandat ausgestattet ist, in den Territorialgewässern der UN-Mitgliedsstaaten Piraten crews zu verfolgen und zu stellen. Dafür notwendige Aufklärungsmittel existieren bereits: die unter Verantwortung der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) installierten globalen Such- und Rettungssysteme INMARSAT/GMDSS.

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