Nach dem Wechsel von Boris Jelzin zu Wladimir Putin Anfang 2000 hat Russlands postsowjetische Machtelite nun schon zum zweiten Mal den Beweis erbracht, Spitzenpersonal auswechseln zu können, ohne nennenswerte politische Erschütterungen zu riskieren. Die Präsidentenwahl vom 24. Februar hat gehalten, was sie versprach.
Die Operation "Nachfolger" konnte nicht reibungsloser vonstatten gehen. Was freilich weniger einer starken Kreml-Elite, sondern vielmehr dem starken Glauben eines Großteils der russischen Gesellschaft in einen mächtigen Staat und eine funktionierende Staatsmacht (wlast) als unerlässliche Bedingung für ein stabiles und gerechtes Sozialgefüge zu verdanken ist.
Natürlich hat dies mit Demokratie im westlichen Sinne wenig zu tun. Muss es letztlich auch nicht. Russland verfügt über eine tausendjährige komplexe geschichtliche Erfahrung, gewachsen im Spannungsfeld zwischen Europa und Asien, die ein gewaltiges Arsenal an politisch-kulturellen Theorien, Ideologien und Glaubensätzen hervorgebracht hat. Wer will dem Land da verübeln, dass es sich zunächst auf dieses Potenzial stützt, um sich der eigenen Zukunft zu erinnern, und nicht auf vermeintliche Heilsformeln aus dem Westen baut?
70 Jahre Sowjetunion haben ein in vielerlei Hinsicht modernes Staatswesen beschert
Nach Meinung der Historikerin Irina Glebowa handelt es sich bei den Umbrüchen im postsowjetischen Russland weder um einen "demokratischen Transit" noch um eine "Rückkehr in die Vergangenheit, in den Kommunismus oder Totalitarismus", noch um ein "Neben- und Miteinander von Altem und Neuem im postsowjetischen System". Was stattdessen stattfinde, sei ein "kratokratischer Transit": eine Bewegung weg von überholten hin zu neuen, aktuellen sozialen Verhältnissen angepassten Machtstrukturen.
Dies ergebe sich aus dem "kratozentrischen" Charakter der russischen Kultur: In Russland sei staatliche Macht ihrer Intention nach stets total und allumfassend gewesen. Modifikationen habe es immer dann gegeben, wenn die Staatsmacht "schwächelte". Dann sei sie temporär gezwungen gewesen, andere, teils noch schwächere Akteure zuzulassen - dann habe sie eine so genannte Machtpartei installiert, mit deren Hilfe der Raum für politische Aktivitäten im Interesse der Staatsmacht neu geordnet werden sollte.
So geschehen 1906, als sich der Absolutismus - bis dato die stabilste Form staatlicher Machtorganisation Russlands - gezwungen sah, der Gründung eines mehr oder weniger unabhängigen Parlaments zuzustimmen. Oder 1993, als die Staatsmacht zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert dem Land eine Verfassung und eine Legislative geschenkt habe: Jede neue Einberufung der Duma sei eine neue Machtpartei gewesen - und ein neuer Versuch, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR stark geschwächte Staatsmacht zu konsolidieren und erneut zur einzigen Quelle und zum alleinigen Subjekt russischer sozialer Wirklichkeit zu machen.
Allerdings, im Sinne der Theorie Glebowas, von der relativen Popularität der Machtpartei Einiges Russland auf eine reale Konsolidierung staatlicher Macht zu schließen, hat wenig Sinn, solange diese Partei ein weitgehend elitäres und virtuelles Projekt bleibt. Die Polittechnologen des Kreml dürften sich daran erinnern, dass Anfang des 20. Jahrhunderts das Projekt Machtpartei schon einmal dank seines elitären Charakters gescheitert war. Durchsetzen sollte sich seinerzeit die Leninsche Partei neuen Typusund damit das sowjetische Machtmodell als einzig adäquate Antwort auf Russlands entstehende moderne Massengesellschaft mit all ihren Konflikten und Widersprüchen. Nach diversen dramatischen Transformationen hatte sich die Sowjetmacht gegen Ende des Jahrhunderts weitgehend erschöpft. Freilich nicht, ohne vorher erheblich zum Ausbau der russischen Massengesellschaft beigetragen zu haben.
70 Jahre Sowjetunion haben insofern ein in vielerlei Hinsicht modernes Staatswesen beschert. Eine Tatsache, der sich Russlands postsowjetische Machtelite nur sehr widerwillig stellt. Bemüht, den veränderten Verhältnissen gerecht zu werden, setzt sie zwar auf relativ moderne Technologien, wie die Einrichtung verschiedener Machtparteien, zu denen neben Einiges Russland auch dessen Linksausleger Gerechtes Russland gezählt werden kann. Dabei bedient sie aber in archaischer Manier ein quasi virtuelles Projekt, eine schillernde PR-Maschine nämlich, die unermüdlich ein und dieselbe Botschaft verkündet: Ordnung und Stabilität könne nur von einem starken Staat ausgehen.
Russland kann es sich auf Dauer nicht leisten, kein modernes Land sein zu wollen
Eine gewisse Zeit mag eine derart apolitische Selbstlegitimierung durchaus funktionieren, die Botschaft genügend Strahlkraft besitzen, Staat und Bürger einander näher zu bringen und so den Mythos ihrer Einheit zu nähren. Aber was, wenn ihre Strahlkraft verblasst, weil der Verkündung keine konkreten politischen Taten folgen?
Russland kann es sich auf Dauer nicht leisten, kein modernes Land sein zu wollen. Angesichts der sich im Lande auftürmenden sozialen und wirtschaftlichen Konflikte muss es seinen vor hundert Jahren eingeschlagenen eigenen Weg in die Moderne konsequent fortsetzen. Das Projekt Machtpartei kann dabei durchaus behilflich sein, natürlich nicht wie bisher als rein virtuelle Struktur, sondern als Rückkoppelungsmechanismus zwischen Staatsmacht und Zivilgesellschaft.
Auch dürfte langfristig eine Machtpartei kaum ausreichen, die gesamte Bandbreite an Meinungen, wie sie für das heutige Russland typisch sind, zu erfassen. In Russland - so Irina Glebowa - sei eine segmentierte Gesellschaft entstanden, die sich nicht länger auf ein gemeinsames Volksinteresse herunterbrechen lasse. Die soziale Heterogenität könne eine Partei allein nicht mehr auffangen. Nicht zufällig seien daher bereits in den neunziger Jahren verschiedene Machtparteien entstanden. Dem heutigen Gesellschaftszustand entspräche am ehesten die Idee eines Machtparteiensystems. Der ideale Nährboden dafür sei die Partei Einiges Russland. Laut Glebowa werde ein solches System aus Massenparteien bestehen, die in der Lage seien, die verschiedenen Interessen der postsowjetischen Bürger zu einer symbolischen Einheit zu verweben. Mit der Etablierung der bereits erwähnten Formation Gerechtes Russland hat die aktuelle Kreml-Elite zu verstehen gegeben, in genau diese Richtung gehen zu wollen.
Jedoch dürfte ihr dies ohne Erneuerung in den eigenen Reihen ziemlich schwer fallen: Seit vier Jahren ist die Machtwelt des Kreml mehr denn je zu einer autarken Veranstaltung verkommen. Die Rekrutierung neuen Personals aus den Regionen wird zusehends schwieriger. Die Bank für "Ersatzspieler" bleibt zuletzt weitgehend leer. Natürlich leidet darunter die Qualität der Machtelite - deutlichster Beleg dafür ist die konservative Grundhaltung der politisch aktiven Pro-Kreml-Jugend, ihre fatale Neigung, sich eher anzupassen, als den Aufstand gegen die Alten zu proben.
Eine Frischzellenkur ist mehr als überfällig. Die Machtelite hat dies inzwischen begriffen und Russlands Zivilgesellschaft für sich entdeckt. Das von Putin und Medwedjew wiederholt signalisierte Interesse an einer stabilen, überschaubaren Szene von Nichtregierungsorganisationen ist echt: Als einer der wenigen verbliebenen Räume soziokultureller Selbstverwirklichung üben Russlands NGOs eine starke Anziehungskraft auf jene aus, die vom Leben mehr erwarten als den schnellen Dollar. Besonders in Netzwerken verankerte Organisationen ermöglichen Mobilität, Kontakte und nicht selten Aufstiegsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: NGOs stellen prinzipiell einen idealen Pool dar, um künftiges Führungspersonal zu sichten und zu fördern. Ein Potenzial, auf das die personell regenerierungsbedürftige Kreml-Elite offenbar nicht länger verzichten kann und will.
Peter Linke ist Regional- und Sozialwissenschaftler, er leitet seit 2005 die Dependance der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau.
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