Während Russlands Oberster Soldat Igor Sergejew die Idee einer gemeinsamen russisch-europäischen Raketenabwehr verteidigt, fühlen sich andere Spitzenmilitärs davon brüskiert - nicht zuletzt der Chef der Strategischen Raketentruppen, Generaloberst Wladimir Jakowlew, der ohne Skrupel durchblicken lässt, dass Putins Vorstoß russische Interessen unterläuft.
Nach allem, was bisher bekannt wurde, denkt der Kreml an ein ABM-kompatibles Raketenabwehrsystem, das Interkontinentalraketen eines eventuellen Aggressors in der Startphase (Boost Phase) vernichtet. ABM-kompatibel könne allerdings ein solches System nur sein, meint Jakowlew, wäre es "rein taktischer Natur". Zwar verfügt Russland über das einzige funktionierende ABM-System der Welt: 100 Abwehrraketen des Systems A-35, stationiert im Moskauer Umland zum Schutz der Hauptstadt vor feindlichen Interkontinentalraketen. Doch ist dieses System weder "taktischer" Natur, noch fähig, ganz Europa zu verteidigen. Diese Waffen verfügen selbst in ihren fortgeschrittensten Varianten nicht über die nötige Reichweite, um feindliche Interkontinentalraketen in der Startphase zu vernichten. Und den von Putin hofierten Westeuropäern fehlt es an Know-How und Geld, dieses Manko auszugleichen.
Aus Sicht der russisch-amerikanischen Beziehungen allerdings ergibt sich ein anderes Bild: Seit Jahren verhandeln Moskau und Washington hinter verschlossenen Türen über eine Revision des ABM-Vertrages von 1972. Offiziell gab sich Moskau bisher stets kompromisslos. Die Amerikaner ihrerseits wurden nicht müde zu beteuern, die angestrebte ABM-Korrekturen richteten sich keinesfalls gegen Russland. Zunächst kursierte die Legende von der "begrenzten" strategischen (Nationalen) Raketenabwehr (NMD): 100 Antiraketen - stationiert in Alaska -, keine wirkliche Gefahr also für Russlands Atompotenzial. Nachdem jedoch Moskau nachgewiesen hatte, dass 100 Antiraketen in Alaska nicht in der Lage seien, das gesamte Territorium der USA vor feindlichen Interkontinentalraketen zu schützen, und daher argwöhnte, Washington betrachte jenes Arsenal lediglich als Grundstock für ein - alles andere als "begrenztes" - Raketenabwehrsystem, argumentierten die Amerikaner: Es sei an keinen großen Antiraketenschirm über den USA gedacht, sondern an viele kleine "Schirmchen" über den Abschussbasen potenzieller Aggressoren. Also: nicht Vernichtung feindlicher Interkontinentalraketen nach deren Wiedereintritt in die Erdatmosphäre über dem Territorium der USA, sondern in der Startphase über dem Gebiet des Aggressors. Gegen derartige Boost-Phase-Antiraketensysteme, so die Amerikaner, könne Moskau nun wirklich nichts haben. Deren Reichweite sei zu gering, um Russland etwas anhaben zu können. Strategische Boost-Phase-Raketenabwehr verstoße wohl gegen den ABM-Vertrag. Taktische Boost-Phase-Raketenabwehr (Boost Phase TMD) sei indes erlaubt. Angenommen, Russland würde bei den laufenden Verhandlungen letzteres nicht an die große Glocke hängen, der Dank Washingtons wäre ihm gewiss ...
Putins auf Westeuropa gemünzte ABM-Initiative legt den Schluss nahe, der Kreml könnte durchaus geneigt sein, dieser Argumentation zu folgen. Das würde bedeuten: Man toleriert die Absicht Washingtons, Raketenabwehrkapazitäten jenseits der im ABM-Vertrag festgelegten Grenzen zu entwickeln, solange die strategischen Interessen Russlands ausreichend berücksichtigt werden. Worin dabei das Interesse Russlands besteht, hatte Putin bereits vor seiner Westeuropa-Reise deutlich gemacht: Reduzierung der aktiven Nuklearpotenziale beider Länder auf jeweils 1.500 und nicht - wie ursprünglich geplant - auf 2.500 Einheiten bei den anstehenden START-3-Verhandlungen.
Diese Absicht in allen Ehren, den strategischen Interessen Russlands entspricht sie auf keinen Fall: Schon START-2 reduziert dessen Nuklearpotenzial - infolge veralteter U-Boot- und Fliegerkapazitäten - auf etwa 1.500 Einheiten. Unter diesen Umständen hat Washington keinen Grund, die eigenen Mittel unter die START-2-Obergrenze von 3.500 Einheiten abzusenken. Dies umso mehr, als 3.500 Einheiten auch jene Grenze darstellen, deren Unterschreiten das Funktionieren der amerikanischen nuklearen Triade gefährden würde. Auch sollte sich der Kreml davor hüten, Washington Konzessionen bei Boost-Phase-Raketenabwehrsystemen zu machen, stellen derartige Systeme - siehe Amerikas ABM-Aktivitäten in Norwegen - doch sehr wohl eine Bedrohung der Strategischen Nuklearstreitkräfte des Landes dar.
Putins Vorstoß überschätzt in hohem Maße Russlands Möglichkeiten, Einfluss auf die Politik der USA zu nehmen. Der Präsident wäre gut beraten, statt dessen intensiv über asymmetrische Gegenmaßnahmen für den Fall nachdenken, dass sich Washington definitiv aus dem ABM-Vertrag verabschiedet. General Jakowljew hat damit begonnen. Er scheint überzeugt, dass die Amerikaner den ABM-Vertrag sprengen werden. Seine Überlegungen reichen von der erneuten Bestückung strategischer Trägermittel mit Mehrfachsprengköpfen bis zur Wiedereinführung von Kurz- und Mittelstreckenraketen zur Bekämpfung amerikanischer Militärobjekte in Europa. Aus Berliner oder Pariser Sicht keine sonderlich verlockende Perspektive - für Moskau eine durchaus realistische Option.
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