Nicht historische Schadenfreude, sondern Zukunftsangst trieb die Amerikaner durch die Neunziger: Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung Europas und Japans in den fünfziger und sechziger Jahren hatte der Zusammenbruch der Sowjetunion dem Jalta-System als der entscheidenden Grundlage der US-amerikanischen Globalhegemonie nach 1945 einen tödlichen Schlag versetzt. Hektische Versuche Washingtons gegenzusteuern, scheiterten kläglich: Scheinbar bewährte modernisierungstheoretische Ansätze (Am westlichen Wesen soll die Welt genesen ...) liefen allesamt ins Leere, weil sie in ihrer pathologischen Fixierung auf die Globalisierung des bestehenden kapitalistischen Weltsystems blind blieben für eine weitere zentrale Realität unserer Zeit: die Transformation dieses kapitalistischen Weltsystems in ein qualitativ anderes, wofür das Ende von Jalta nur ein Indiz von vielen war.
Im Ergebnis dieser Entwicklung folgten politische Konfusion und folgerichtig der Rückzug der Politiker aus der Sicherheitspolitik. An ihre Stelle traten diverse Sicherheits technokraten. Die konzeptionellen Konsequenzen dieses Wachwechsels waren erheblich. Zum einen bewirkte er eine zügige Remilitarisierung des offiziellen sicherheitspolitischen Denkens: In den Mittelpunkt der meisten Strategiepapiere rückte erneut der militärische Faktor, frei nach dem Motto: Nur keine Experimente!
Zum anderen begann ein neuer Wunderwaffen-Wahn zu grassieren: Spätestens seit Ende der achtziger Jahre stand endgültig fest, dass Ronald Reagans militärtechnologisches Lieblingskind - die Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) - in keinerlei Hinsicht realisierbar war. Die Sternenkriegsszenarien des Hollywood-Präsidenten endgültig aufgeben wollte in Washington allerdings niemand so recht. Eine modifizierte SDI-Variante, eine Art "SDI light", musste her. Im März 1993 war es soweit. Das neue Konzept hieß Ballistische Raketenverteidigung (BMD), die dazugehörige Behörde Ballistische Raketenverteidigungsorganisation (BMDO). Innerhalb kürzester Zeit sorgte diese Struktur dafür, dass Begriffe wie National Missile Defense (NMD) und Theater Missile Defense (TMD) die Sicherheitsanalysen dominierten.
Schließlich und endlich kam es zu einer Renaissance nuklearstrategischen Aberglaubens: Spielten in den einschlägigen Analyse-Elaboraten der frühen Neunziger Nuklearwaffen noch eine eher untergeordnete Rolle, betonte die im Februar 1996 veröffentlichte Nationale Sicherheitsstrategie der Clinton-Administration, "dass die Vereinigten Staaten eine nuklearstrategische Triade erhalten werden, die ausreicht, künftig jede feindlich gesinnte ausländische Führung, die über Nuklearstreitkräfte verfügt, davon abzuhalten, die vitalen Interessen der USA zu verletzen."
Die praktischen Konsequenzen dieses sicherheitspolitischen Umdenkens sind allgemein bekannt: Militärisches Vorgehen im Golf und auf dem Balkan; massive Versuche, den amerikanisch-sowjetischen Antiraketenvertrag (ABM-Vertrag) von 1972 als das entscheidende Hindernis auf dem Weg zu totaler Raketenabwehr-Seligkeit zu kippen; allmähliches Abrücken vom Teststoppvertrag (CTBT).
Andere Staaten und Regierungen haben längst damit begonnen, Schlussfolgerungen aus dem Sicherheitsrevisionismus Washingtons zu ziehen. Dies gilt insbesondere für Russland: Der Krieg des Westens am Golf und auf dem Balkan hatte russischen Strategieplanern die militärtechnologische Schwäche der eigenen Streitkräfte drastisch vor Augen geführt. Auf absehbare Zeit schien es für sie nur einen Ausweg aus dieser Situation zu geben: Renuklearisierung der nationalen Verteidigung. "Nuklearwaffen", heißt es im unlängst veröffentlichten Entwurf der russischen Militärdoktrin, "sind ein effektiver Abschreckungsfaktor, der die militärische Sicherheit der Russischen Föderation und ihrer Verbündeten gewährleistet
Während Russlands Streitkräfte im Juli bei einem großangelegten Manöver nukleare Schläge gegen angreifende NATO-Truppen simulierten, begannen Moskaus Diplomaten, in Washington und anderswo das Terrain für einen weitreichenden militärtechnologischen Deal zu sondieren: Amerikanische Zugeständnisse bei konventioneller Präzisionsmunition für russische Zugeständnisse beim ABM-Vertrag. Die Verhandlungen dauern an, und Näheres ist nicht bekannt. Nur eines: dass der Kreml willens und fähig ist, bei der Einhaltung zentraler Abrüstungsverträge durchaus flexibel zu sein: Unter Berufung auf "höchste nationale Interessen" teilte er Anfang Oktober der OSZE offiziell mit, er müsse: im Zusammenhang mit der Bekämpfung tschetschenischer Separatisten den Vertrag über die Begrenzung konventioneller Waffen in Europa (KSE-Vertrag) leider verletzen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis andere ambitionierte Vertreter wie China, Indien, Pakistan, Israel oder Iran offen erklären: Was Amerikanern und Russen recht ist, kann uns nur billig sein. Verträge sind ein Relikt aus einer Zeit, als die Menschen irrtümlicherweise an Dinge wie Vernunft und Fortschritt glaubten. Also weg mit dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT), weg mit dem Raketentechnologiekontrollregime (MTCR), Schluss mit den Verhandlungen über den Abschluss eines Vertrages über die Einstellung der Produktion von spaltbarem Material (FMCT). Jeder ist sich selbst der Nächste. Sicherheit ist nicht miteinander, sondern nur gegeneinander durchsetzbar.
Ein derartiger Rückfall in früheste sicherheitspolitische Denkmuster kann sogar zu einem bestimmenden Faktor der Transformationsperiode werden, für die massive Willkür und Gewaltbereitschaft ohnehin typisch sein dürften. Hier gilt es, frühzeitig gegenzusteuern. Der um sich greifenden Vertragsphobie in den internationalen Beziehungen entgegenzuwirken, ist eine politische Aufgabe erster Ordung! Voraussetzung dafür ist ein qualitativ neuer Sicherheitsbegriff. Kein Sicherheitsbegriff, der sich nur erweitert gibt, letztlich jedoch unverändert hegemonistisch ist, weil er sich am bestehenden kapitalistischen Weltsystem orientiert, sondern ein integrativer Sicherheitsbegriff, der dazu befähigt, die schwierigen Aufgaben der Transformationsperiode zu meistern.
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