Monster der Massengesellschaft

Die Debatte in den USA über posthumane Lebensformen Chris Hables Grays Reflexionen über den »Cyborg Citizen« sollte nicht nur als Warnung verstanden werden

Zwischen Deutschland und den USA liegen Welten. Nirgendwo wird dies deutlicher als bei der Beurteilung grundlegender Tendenzen künftiger technologischer oder biotechnologischer Innovation: Während in Deutschland selbst zukunftstechnologische Klassiker wie die Genforschung lieber stigmatisiert als diskutiert werden, setzt man sich jenseits des Atlantiks seit Jahren intensiv und kontrovers mit mutmaßlich entscheidenden Trends der Zukunft auseinander. Etwa der »Cyborgisierung«: der nachhaltigen Verschmelzung von Mensch und Maschine zu einer neuen, »posthumanen« Lebensform mit einem spezifischen Bewusstsein, spezifischer Körperlichkeit, spezifischen sexuellen Neigungen sowie einem daraus resultierenden sozialen und politischen Verhalten. Interessieren sich IT-Praktiker wie Hans Moravec, Ray Kuzweil oder Neil Gershenfeld vorrangig für die technische Seite dieser Entwicklung (*), spüren andere der sozialen Dimension cyborgisierter Lebensformen nach. So der Cyberkulturologe Chris Hables Gray. Vier Jahre nach der Veröffentlichung seiner Studie über den »Faktor Mensch« im postmodernen Krieg (**) meldet sich der politische Aktivist und Ex-NASA-Mitarbeiter nun mit einer nicht minder interessanten Analyse zur »Politik im posthumanen Zeitalter« (Cyborg Citizen. Politics in the Posthuman Age. Routledge 2001) zurück.

Laut Gray ist die Menschheit längst ins posthumane Zeitalter aufgebrochen: »Cyborgs sind dabei, zu einem festen Bestandteil der heutigen Kultur zu werden und bewirken damit eine Neudefinition der meisten politischen Konzepte menschlicher Existenz«. Dies gelte nicht nur fürs Militärische, wo die Integration von Soldaten und Waffentechnik in ein einheitliches System schneller als je zuvor voranschreite. Auch die moderne Medizin leiste diesbezüglich Bemerkenswertes - von der Organchirurgie über die fortschreitende Technisierung der pränatalen Manipulierung und postnatalen Immunisierung menschlichen Lebens bis hin zu immer komplexeren Lebenserhaltungssystemen. Deutliches Indiz für die »Cyborgisierung« menschlicher Tätigkeit sei nicht nur die zügige Eroberung menschen-feindlicher Räume wie der Tiefsee und des Weltraums, sondern vor allem die Schaffung neuer Existenzräume wie dem Cyberspace.

Für Gray ist all dies nur der Anfang: Die »Cyborgisierung« werde unaufhaltsam voranschreiten, bis auch die intimsten Bereiche menschlichen Seins erobert sind: die Familie, die Sexualität, die Geschlechtlichkeit. Bereits heute seien Familiensysteme oft Cyborg-Systeme, weil ein bedeutender Aspekt ihrer Außenwirkung - Wohlstand und Wachstum - ja sogar ihre Existenz an sich aufs Engste mit technologischen Interventionen verbunden seien. Gray: »Letztendlich werden viele Menschen mit oder ohne Segen der Regierung und anderer Autoritäten daran gehen, Familien nach eigener Lust und Laune zu konstruieren. Schließlich ist die Technologie für künstliche Besamung weniger kompliziert als das, was für die Zubereitung einer Erntedankfest-Mahlzeit benötigt wird. Selbst kompliziertere Prozeduren wie pränatale Geschlechterbestimmung sind heute kein allzu großes Problem mehr. Und für alle, die über die nötigen Mittel verfügen, gibt es die Möglichkeit der In-Vitro-Fertilisation oder Leihmutterschaft.« Allerdings: die eindeutige Bestimmung des Geschlechts verliere im posthumanen Zeitalter zunehmend an Bedeutung. Dank Cyberspace und Sexualchirurgie seien die Menschen in der Lage, ihre geschlechtliche Identität permanent zu manipulieren und damit den Geschlechterbegriff quantitativ wie qualitativ zu erweitern...

Ist all dies nun gut oder schlecht? Einerseits warnt Gray vor dem totalitären Potenzial cyborgisierter Gesellschaftsstrukturen, anderseits unterstreicht er deren Bedeutung für zivilgesellschaftliches Engagement. Kein Widerspruch, sondern Ausdruck für die erhebliche Ambivalenz der Cyborg-Technologie: »Es ist die Cyborg-Techno-Wissenschaft, die das Monster der Massengesellschaft schafft ... Einzige Alternative: In die entgegengesetzte Richtung marschieren und Cyborg-Bürgerrechte in vielfältiger Form zum Blühen bringen ... Sich selbst als Cyborg zu akzeptieren, kann befreiend und ermächtigend sein. Wir können wählen, wie wir uns selbst konstruieren. Wir können Widerstand leisten.«

Trotz alledem weigert sich Gray, Cyborg-Technologie vorrangig als Chance zu begreifen. Sie bleibt für ihn ein Produkt der »Techno-Wissenschaft«, entwickelt von Männern in weißen Kitteln für Männer in feinem Zwirn und Uniform zur Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Strukturen. All dies ist Cyborg-Technologie. Vor dem Hintergrund sich vertiefender globaler Krisenprozesse erscheint sie dennoch vor allem als gewaltige Chance, jenes Prinzip, das zu Recht als bedeutendste Errungenschaften einer humanistischen Kultur gilt - die absolute Wertschätzung jedes einzelnen, individuellen menschlichen Lebens - stärker als je zuvor im Denken und Handeln der Menschen zu verankern.

(*) Hans Moravec: Robot. Mere Machine to Transcent Mind. Oxford University Press 1998. Ray Kurzweil: The Age of Spiritual Machines. When Computers Exceed Human Intelligence. Viking 1999.

Neil Gershenfeld: When Things Start to Think. Henry Holt Company 1999.

(**) Chris Hables Gray: Postmodern War. The New Politics of Conflict. Guilford 1997.

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