Wie ahnungs- und visionslos linke Intellektuelle sein können, wird immer dann besonders deutlich, analysieren sie die Vorgänge in Mittelosteuropa (MOE): Die neoliberale Internationale sei dabei, die gesamte Region wirtschaftlich und sozial zugrunde zu richten, heißt es dann. Die Aufnahme wichtiger MOE-Staaten in die EU werde diesen Prozess beschleunigen. Nur eine starke Linke im Westen als selbstloser Anwalt der Mittelosteuropäer könne dies verhindern und damit auch sicherstellen, dass die Region nicht im nationalistischen Chaos versinke. Das Problematische dieser Analyse ist nicht das darin zum Ausdruck kommende Krisenbewusstsein, sondern eine Einförmigkeit des Denkens, die dieses Krisenbewusstsein offenbar befördert.
In ihrer unlängst veröffentlichten Studie Market Failure: A Guide to the Eastern European Economic Miracle qualifizieren die Ökonomen László Andor und Martin Summers die "Vermarktwirtschaftung" Mittelosteuropas als "fundamentalen Fehlschlag". Der Wandel in der Region habe letztlich nichts weiter als wirtschaftliche Desintegration bewirkt. Was von neoliberalen PR-Strategen als "Internationalisierung" und "Integration in die globale Wirtschaft" verkauft werde, sei im Kern "Markt-Maoismus" pur - eine "Große Bürgerliche Kulturrevolution", die wie ein Flächenbrand über eine schutzlose Region gekommen sei.
Wirklich? Zum einen war Mittelosteuropa bereits vor 1990 keineswegs ein homogener Raum. Jedes Land hatte sich mit einem spezifischen historischen Erbe auseinander zu setzen und verfolgte dementsprechend eigene nationale Politikansätze. Trotz aller Zäsuren hat sich daran nichts geändert, im Gegenteil. Schon vor diesem Hintergrund verbietet es sich, die MOE-Staaten ausschließlich als passive Opfer zu fassen: Sie waren und sind aktive Spieler mit ausgeprägten Interessen und diversen Instrumentarien, diese Interessen durchzusetzen. Ihre höchsten Repräsentanten pauschal als einfallslose Nachbeter westlicher Reformkonzepte zu geißeln, ist daher mehr als oberflächlich. Man nehme nur den tschechischen Spitzenpolitiker Václav Klaus: Auf den ersten Blick ein "Thatcherist" reinsten Wassers, entpuppt er sich bei näherem Hinsehen als gewiefter Taktiker mit komplexen neoliberalen, nationalistischen und technokratischen Auffassungen, die im Kern auf den Erhalt von Arbeitsplätzen, den Schutz erreichter Lebensstandards sowie die Verteidigung nationaler Souveränität gerichtet sind. Außerdem hat trotz aller makro-ökonomischen "Fehlschläge" der Konsum-Kapitalismus für viele in der Region persönliche Wahlfreiheiten geschaffen sowie die Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger Waren verbessert. Diesen Menschen fällt es daher schwer, die Umbrüche ausschließlich negativ zu deuten.
Die Überzeugungen des Präsidenten Tomás? Masaryk
Die westeuropäische Linke als "natürlicher" Anwalt des politischen "Underdogs" Mittelosteuropa? Es stellt sich die Frage, ob eine derartige Anwaltschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die betreffenden Staaten überhaupt notwendig ist. Jahrelang war ihnen von neoliberalen Gralshütern eingebläut worden, die Politik sei die Hure der Wirtschaft, der Staat lediglich die Matratze für das Liebesspiel zwischen individuellen Produzenten und Konsumenten. "There is no such thing as society!" Wer musste nicht alles dafür herhalten, der Lieblingsthese von Thatcher Co. den notwendigen seriösen Rahmen zu geben: Locke, Hume, Bentham ... Selbst Hegel wurde vom CIA-Analysten Francis Fukuyama als Kronzeuge für das "Ende der Geschichte" aufgerufen. Ausgerechnet Hegel, der in seinem Spätwerk immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass die Zivilgesellschaft lediglich eine Dimension der Gesellschaft sei und keinesfalls bedeutsamer als die anderen beiden Dimensionen: Staat und Familie.
Dass Länder, die aufgrund ihrer historischen Spezifik - des Dirigismus der Vorkriegszeit, des Alptraums Zweiter Weltkrieg, der kommunistischen Industrialisierung danach - objektiv vor der Aufgabe standen, zivilgesellschaftliche Strukturen "von oben", über den Staat, zu schaffen - dass diese Länder Hegel quasi als Stammvater des Neoliberalismus empfohlen bekamen, sagt viel aus über den demagogischen Charme neoliberaler Ideologen. Allerdings auch über die Naivität, mit der die neuen Eliten Mittelosteuropas anfangs an die Umgestaltung ihrer Länder gingen: "Transformation is everything - tradition nothing!" Sie antizipierten den Kampfruf der neoliberalen Internationale, da sie ihn als brauchbares ideologisches Vehikel zur Diskreditierung des realsozialistischen Erbes ihrer Länder betrachteten. Zugleich folgten sie seiner ultimativen Stoßrichtung gegen alles Spezifische, Nationale, das der Unterordnung der Transformationsländer unter die Formel vom Economic Man im Wege stand.
Parallel dazu verstärkte sich jedoch das Interesse am nationalen Erbe, an den Wurzeln der eigenen modernen nationalstaatlichen Existenz. So in Tschechien, wo die Überzeugung des Präsidenten Tomás? Masaryk, eine wirkliche Demokratie brauche Menschen, die an die Sendung ihres Staates und ihrer Nation glauben, immer mehr Anhänger findet. Die erneute Beschäftigung mit Masaryk schärft wiederum den Blick für eine kontinentaleuropäische Denktradition, die von Sokrates bis Georg Lukács reicht, in der bisherigen Transformationsdebatte jedoch so gut wie keine Beachtung fand: Die Verschmelzung des Privaten und des Öffentlichen, der bohrende Zweifel an der Notwendigkeit absoluter Individualität.
Indem sie diese Denktradition in die laufende Transformationsdebatte einbringen, betreiben osteuropäische Intellektuelle, wovor sich die meisten westeuropäischen Intellektuellen linker Provinienz jahrelang gedrückt haben: die Transformation der westlichen Transformationsorthodoxie in ein offenes, pluralistisches Gesellschaftskonzept, das Osteuropa als das fasst, was es ist - ein Teil der Moderne, dessen Zukunft genau wie die West-, Süd- und Nordeuropas davon abhängt, wie sich die wirklich entscheidende Transformation der Gegenwart - die Transformation des kapitalistischen Weltsystems in ein noch nicht näher bestimmbares "post-kapitalistisches" System - vollzieht.
Nationalismus als mittelosteuropäisches "Worst Case Scenario"?
Insofern sollten nationalistische Kommentare mittelosteuropäischer Intellektueller mit größter Sorgfalt analysiert werden: Natürlich strotzen Bukarester Medien trotz rumänisch-ungarischem Grundvertrag unverändert vor anti-ungarischer "Feindpropaganda". Andererseits ist da Emil Viklicky, der weltgewandte Jazz-Pianist aus Olomouc, der sich seit Jahren verstärkt mit den Wurzeln der tschechischen Volksmusik beschäftigt. Einem Nationalismus, dem es um nationale Selbstbehauptung jenseits aller Chauvinismen und damit um die Bewahrung einer wirklich pluralistischen Moderne geht, sollte die ganze Sympathie der West-Linken gelten. Im Augenblick freilich scheint sie dieser Aufgabe weder intellektuell noch politisch gewachsen und kann nur hoffen, von den politisch Aktiven in der Region als Partner akzeptiert zu werden.
Dies setzt voraus, dass sich die westeuropäische Linke im Umgang mit Mittelosteuropa um neue Themenfelder bemüht - den Regionalismus etwa, den man nicht als komplementäre Veranstaltung zur EU-Osterweiterung, sondern als bewusstes Korrektiv zur dominierenden Absorptionstechnokratie à la Brüssel nehmen könnte. Ein solcher Regionalismus wäre die beste linke Anti-These zur Globalisierung, gerichtet zum einen gegen den Mobilitäts-, zum anderen gegen den Effektivitätswahn der Globalisierung.
Natürlich stellt ein derartiger Regionalismus eine enorme Herausforderung dar - besonders für die Linke in Deutschland -, fordert er doch dazu auf, das Verhältnis zwischen Ostdeutschland und Mittelosteuropa nicht nur neu zu bestimmen, sondern im Sinne einer spezifischen "Euro-Region" zu definieren, deren Basis eine gemeinsame Geschichte und damit gemeinsame Interessen sind. Überflüssig zu erwähnen, dass all dies prinzipielle Konsequenzen für das künftige innen- und außenpolitische Selbstverständnis der PDS haben wird. Freilich nur dann, wenn die Partei zwei Begriffe mit konkreten linken Inhalten füllt: Zum einen den der "Nation" - Gabriele Zimmer und Diether Dehm (Stichwort: "nationaler Internationalismus") haben den Faden aufgenommen - zum anderen den der "Heimat". Zweifellos der Problematischere von beiden. Allerdings bieten Heinrich Bölls Überlegungen aus den frühen Siebzigern, Arbeitslosigkeit, Mietwucher und Obdachlosigkeit als Form der Heimatvertreibung zu ahnden, oder Christa Wolfs Heimat-Reflexionen in ihrem Buch Störfall ausreichend Material für ein modernes Heimat-Verständnis jenseits aller folkloristisch-nationalistischen Borniertheit. Die Frage ist nur, ob sich Deutschlands Linke in Ost und West überwinden können, dieses Material vorurteilsfrei anzunehmen.
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