Raketen gegen Basajew

TSCHETSCHENIEN-KRIEG II Empörung ist gut, Analyse besser

Als Roman Herzog und andere CDU-Größen Anfang der neunziger Jahre damit anfingen, den Polen und anderen Osteuropäern einzureden, nicht Menschen machten Kriege, sondern Kriege aus allen Menschen Opfer, zeigte sich die Linke zu Recht empört, sprach von reaktionärem Geschichtsrevisionismus und warnte: Wehret den Anfängen!

Während des NATO-Krieges gegen Jugoslawien allerdings eigneten sich auch Teile der Linke derartiges Gedankengut an: eine Analyse war obsolet, statt dessen tobte die nackte Empörung; nach einigen völkerrechtlichen Spitzfindigkeiten praktizierte man sehr bald, was lange Zeit als kleinbürgerlicher Unfug abgetan wurde: eine abstrakte Menschenrechtsdebatte.

Für diesen Schwenk gab es gute Gründe: Der Zusammenbruch des Sozialismus beschleunigte die politische Desillusionierung der Linken; man richtete sich nicht einfach nur in den bestehenden Verhältnissen ein - man war auch froh darüber, dies tun zu können; Systemkritik fand kaum noch statt, jeder Gedanke an revolutionäre Umbrüche wurde unerträglich, Gewalt in all ihren Erscheinungen radikal abgelehnt.

Russlands zweiter Tschetschenienkrieg liefert für ein solches Weltbild ausreichend Nahrung. Doch allen, die sich jetzt darüber empören, noch einmal zur Erinnerung: Auslöser des Krieges war der Überfall auf Dagestan durch tschetschenische und arabische "Gotteskrieger" unter Führung Schamil Basajews. Ein aktives Eingreifen Moskaus in diesen Konflikt war nicht nur legitim, sondern dringend notwendig: Dagestan ist die ethnisch facettenreichste Republik der Russischen Föderation: Über 30 ethnische Gruppen stehen sich dort - zum Teil ausgesprochen feindlich - gegenüber. Ohne massive russische Präsenz wäre nach den Vorstößen Basajews eine Konfrontation unvermeidlich gewesen - und die hätte eine massive Bedrohung für die territoriale Integrität Dagestans und damit die nationale Sicherheit Russlands heraufbeschworen.

Und es war notwendig, gegen Tschetschenien selbst vorzugehen. Seit geraumer Zeit tummelten sich dort islamistische Aktivisten aus dem "nahen" und "fernen" Ausland, gab es eine sich jäh beschleunigende Fragmentierung des Landes und eine völlige Zerrüttung der zentralen Staatsgewalt: Während unzählige afghanische, abchasische und tschetschenische Kriegsveteranen damit beschäftigt waren, Waffen und Drogen zu schmuggeln sowie Menschen zu kidnappen und teilweise auf bestialische Weise zu ermorden, riefen fundamental-islamistische Ideologen mit arabischen Petrodollar in den Taschen immer erfolgreicher zum "Heiligen Krieg" gegen den auch in Tschetschenien verbreiteten, moderaten "Sowjet-Islam" sufischer Prägung auf.

Basajew Co. ging es zu keinem Zeitpunkt allein um die staatliche Unabhängigkeit Tschetscheniens. Unter dem Banner des Islam sollte die gesamte Region zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer politisch neu vermessen werden, zum Wohle Allahs und zum Schaden Russlands. Tschetscheniens Präsident Maschadow erwies sich außerstande, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil: Bemüht, das eigene Hemd vorm Feuer zu schützen, machte er immer größere Konzessionen an diverse Feldkommandeure und andere Lokalgrößen. Nutzen sollte es ihm nicht: Es war kein Zufall, dass just in dem Moment, als Maschadow sich anschickte, mit Moskau über verbesserte Beziehungen zu verhandeln, sein Intimfeind Basajew in Dagestan einfiel ...

Schießen die Russen nicht trotzdem mit Kanonen nach Spatzen? Gibt es eine Verhältnismäßigkeit der Mittel? Die Frage, ob sich die von Russlands Armee im Kaukasus eingesetzten Waffensysteme nicht vor allem gegen die Zivilbevölkerung richten, ist durchaus berechtigt. Noch berechtigter indes ist die Frage, wie es nach dem Krieg in Tschetschenien weitergehen soll. Darüber scheint es in Moskau eher diffuse Auffassungen zu geben. Das ist die Stunde des Militärs - und das Militär kostet dies voll aus. Nach all den Erniedrigungen der vergangenen Jahre - von der Verelendung des Offizierskorps über die NATO-Osterweiterung bis hin zum Balkan-Krieg - durchaus verständlich, aus strategischer Sicht allerdings mehr als bedenklich.

Schließlich findet der zweite Tschetschenienkrieg zeitgleich mit den russisch-amerikanischen Verhandlungen über eine Modifizierung des Antiraketenvertrages (ABM) von 1972 stattfindet. Wird der Kreml angesichts einer massiven Kritik in den USA an seinem Vorgehen im Kaukasus bei einer deklarierten Kompromisslosigkeit bleiben oder aber versuchen, Washington durch Zugeständnisse in der Raketenfrage mehr Zurückhaltung in der Kaukasusfrage abzutrotzen? Dafür spricht nicht zuletzt die positive Darstellung der amerikanischen Haltung gegenüber Moskau auf dem Istanbuler OSZE-Gipfel durch russische Offizielle einerseits, sowie die Andeutungen Washingtons andererseits, Präsident Clinton werde seine für Juni 2000 erwartete Entscheidung über ein begrenztes Raketenabwehrsystems für die USA (NMD) wohl auf unbestimmte Zeit verschieben.

Doch 1999 ist nicht 1972. Nach Überwindung des sowjetisch-amerikanischen Globalkonflikts kann über strategische Antiraketensysteme nicht länger auf bilateraler Ebene gekungelt werden. Die ABM-Verhandlungen gehören endlich internationalisiert - insbesondere vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen im Kaukasus. Dafür Wege zu ebnen, könnte eine der vornehmsten Aufgaben der sogenannten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) innerhalb der EU werden. Dies würde jedoch voraussetzen, dass es eine Russlandstrategie der EU gäbe, die kein arroganter Forderungskatalog à la Kölner Gipfel ist, sondern ein ehrliches Angebot für partnerschaftliches Miteinander, getragen von der Überzeugung, dass es ein gemeinsames Europa ohne breiteste Einbeziehung Russlands nicht geben kann. - Dies ist kein Versuch, die russische Kaukasuspolitik zu rechtfertigen, wohl aber ein Plädoyer für mehr Analyse in schwierigen Zeiten. Empörung ist gut, Analyse besser.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden