Wladimir Putin war noch nicht richtig aus Peking und Pjöngjang abgereist, da konstatierten einfluss reiche westliche Medienvertreter bereits ein massives machtpolitisches Stühlerücken in Fernost: Russland sei entschlossen, in Ostasien wieder mehr an Einfluss zu gewinnen, was nicht ohne Auswirkungen auf die Wirkungsmöglichkeiten US-amerikanischer Politik in der Region bleiben werde.
So weit, so gut, allerdings: Solange der russische Präsident nur deshalb nach China und Nordkorea reist, um bei den »führenden Industrienationen der Welt« Eindruck zu schinden, besteht für den amerikanischen Präsidenten kein Grund zur Beunruhigung: Solange Putin versucht, von den führenden Vertretern der »freien westlichen Welt« als einer der ihren anerkannt zu werden, kann deren Häuptling ruhig schlafen, weiß er doch ganz genau, dass letztlich nach seinen Regeln gespielt wird.
Nein, über Russlands Fernostpolitik müssen sich die Amerikaner - zumindest im Augenblick - keine allzu großen Gedanken machen. Ähnliches gilt für China: Dreh- und Angelpunkt chinesischer Außenpolitik sind die Beziehungen zu den USA und nicht zu Russland oder Indien. Antiamerikanische Aktivitäten wie etwa die Bildung eines strategischen Dreiecks Peking-Moskau-Delhi ziehen Dengs Erben gegenwärtig nicht wirklich in Erwägung, da sie immer noch hoffen, über die USA Zugriff auf dringend notwendige Technologien, Kredite und Märkte zu erlangen. Dies gibt Washington ausreichend Möglichkeiten, Einfluss auf das außen- und sicherheitspolitische Verhalten Pekings zu nehmen.
Das einzige Land in der Region, vor dem die Amerikaner wirklich auf der Hut sein müssen, ist ihr alter Verbündeter Japan. Auf den ersten Blick scheint das bilaterale Verhältnis ungetrübt. Dies gilt insbesondere für den amerikanisch-japanischen »Sicherheitsvertrag« von 1951/60, von dem hochrangige japanische Offizielle immer wieder behaupten, er werde auf ewige Zeiten die entscheidende Grundlage der Außen- und Sicherheitspolitik Nippons bleiben.
Unter der glatten Oberfläche jedoch rumort es heftig: Immer deutlicher melden sich Japans Neonationalisten mit der Forderung zu Wort, das Land müsse sich nachhaltig aus der sicherheitspolitischen Umklammerung durch die USA befreien und in eine selbstständige Militärmacht verwandeln. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht: Japans neonationalistisches Lager ist ebenso komplex wie einflussreich. In seinen Reihen tummeln sich nicht nur führende Akademiker wie Takeshi Umehara, langjähriger Direktor des Kyotoer Internationalen Studienzentrums für japanische Kultur (Nichibunken), und Publizisten wie Shintaro Ishihara, Autor des internationalen Bestsellers The Japan That Can Say No, sondern auch Militärs wie General Hiroomi Kurisu, Ex-Oberbefehlshaber der japanischen »Selbstverteidigungskräfte« (Jieitai) und Spitzenpolitiker: von Yasuhiro Nakasone, Ex-Premier und graue Eminenz konservativer japanischer Strategieplanung, bis hin zu Ichiro Ozawa, charismatischer Führer der ultra-konservativen Liberalen Partei (Jiyuto), der zweitstärksten Oppositionskraft im japanischen Parlament.
Wurden diese Leute in den siebziger und achtziger Jahren nicht müde, die »unikale«, von Ausländern nicht zu begreifende »Spezifik der japanischen Kultur« (Nihonjinron) zu preisen, so beseelt seit Anfang der neunziger Jahre vor allem ein Gedanke ihr Tun: Japan müsse endlich zu einem »normalen Staat« (Futsu-no kokka) werden. Kein Widerspruch, sondern lediglich zwei griffige ideologische Klischees zur Propagierung ein und derselben Idee: Japan habe es nicht nötig, sich von irgend jemanden bevormunden zu lassen. Und schon gar nicht von den USA.
Seit Ende der sechziger Jahre haben Japans Neonationalisten immer wieder versucht, die laufende außen- und sicherheitspolitische Debatte im Land aktiv zu beeinflussen. »Neue Außenpolitik«, »Epoche der Kultur«: die Stichworte wechselten, die Botschaft blieb stets dieselbe: am japanischen Wesen soll die Welt genesen.
In ihrem Bemühen, der japanischen Außen- und Sicherheitspolitik ihren Stempel aufzudrücken, setzen Japans Neonationalisten seit Anfang der neunziger Jahre verstärkt auf die militärische Karte. Mit gutem Grund: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zogen die Amerikaner erstmals ernsthaft in Erwägung, ihre Truppenpräsenz in Japan zu reduzieren. Höchste Zeit also, über mehr militärische Eigenverantwortung nachzudenken. Darüber hinaus erlebte Japan in den Neunzigern einen beispiellosen wirtschaftlichen Niedergang, der die Bevölkerung zunehmend verunsicherte und damit empfänglicher machte für Überlegungen, Nippons Interessen in der Welt notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.
Zwei Faktoren erleichterten Japans Neonationalisten das politische Geschäft: die unverschämten Versuche der Amerikaner, im Rahmen gemeinsamer militärtechnologischer Forschungsprojekte das zivile High tech-Potenzial der Japaner auszuspionieren, sowie das skandalöse Verhalten amerikanischer Militärangehöriger gegenüber der japanischen Bevölkerung, insbesondere auf Okinawa.
1997 formulierten die USA und Japan unter Berufung auf den bilateralen Sicherheitsvertrag von 1951/60 sogenannte Leitlinien für die Zusammenarbeit auf verteidigungspolitischem Gebiet. Im Kern geht es dabei um die Umwandlung der Jieitai in Offensivstreitkräfte. Ein wirkliches Novum: Die bis dato gültigen Leitlinien aus den siebziger Jahren orientierten auf die Schaffung rein defensiver Streitkräfte, deren Aufgabe darin bestehen sollte, eine »begrenzte Aggression« abzuwehren bzw. offensive Operationen der in Japan stationierten US-Streitkräfte logistisch zu unterstützen. Die nunmehr gültigen Leitlinien zielen hingegen auf eine qualitativ verbesserte Schlagkraft der Selbstverteidigungskräfte ab: Ausgestattet mit modernsten Hightech-Waffen soll das japanische Militär in die Lage versetzt werden, nicht nur auf jegliche Invasion zu Land, zur See und aus der Luft zu reagieren, sondern auch Präventivschläge gegen andere Länder zu führen, falls sich Tokio durch diese bedroht fühlt.
All dies steht natürlich in krassestem Widerspruch zu Artikel 9 der japanischen »Friedensverfassung« von 1946, der es Japan »für immer« verbietet, »Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie weiteres Kriegspotential« zu unterhalten. Die japanische Regierung jedoch sieht dies ganz anders: Die neuen Leitlinien bewegten sich im Rahmen dessen, was gemeinhin als »Recht auf individuelle Selbstverteidigung« gelte und verstießen damit nicht gegen die geltende Verfassung.
Japans Neonationalisten geht derartige Bescheidenheit erheblich gegen den Strich. Im Zusammenhang mit den neuen 97er Leitlinien fordern sie eine breite Verfassungsdebatte, an deren Ende das Recht Japans auf »kollektive Verteidigung« als wichtiger Schritt hin zu mehr sicherheitspolitischer »Normalität« stehen müsse.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sicherheitspolitischer »Normalität« aus neonationalistischer Sicht ist die Schaffung fortgeschrittener Raketenabwehrkapazitäten. Sechs Jahre erkundeten amerikanische und japanische Spezialisten die Möglichkeit eines regional begrenzten, nicht-strategischen Antiraketensystems (TMD). Ende vergangenen Jahres einigten sich Washington und Tokio auf die gemeinsame Entwicklung entsprechender Waffenkomponenten. Japans Neonationalisten passt dies wunderbar ins Konzept, ist doch für sie TMD der Schlüssel zur lang ersehnten atomaren Aufrüstung.
Nuklearwaffen zu produzieren, dazu ist Japan aufgrund seines auf Plutoniumbasis arbeitenden zivilen Nuklearprogramms seit langem in der Lage. Nukleare Abschreckung war für das Land jedoch bisher keine realistische Option: eine zu geringe Landmasse, knappe Ressourcen, eine all zu dichte industrielle Infrastruktur, all dies sprach gegen die Nutzung nuklearer Waffen zur Abwehr feindlicher Raketen. Bisher. Denn mit der Schaffung fortgeschrittener TMD-Kapazitäten wird sich die Situation fundamental ändern: Die Versuchung, die eigenen Streitkräfte zu nuklearisieren, wird in dem Maße zunehmen, wie die Angst, von feindlichen Raketen getroffen zu werden, abnimmt.
Rassistisch motivierter Nationalismus, gepaart mit wachsender Begeisterung für Nuklearwaffen: Japanische Wirklichkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Für ein Land wie die USA, das über Jahrhunderte andere als die eigene Werte nicht wirklich akzeptiert hat und Nuklearwaffen nur gut findet, wenn diese Teil des eigene Arsenals sind, ein Alptraum. Ein Alptraum jedoch, den es in hohem Maße selbst verschuldet hat.
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