Die Aufwartungen in Westeuropa sind für Wladimir Putin ohne nennenswerte Höhepunkte zu Ende gegangen - doch die eigentliche außenpolitische Feuertaufe steht ihm noch bevor: Ab Juli will er Peking, Pjöngjang, Tokio und Delhi seine Aufwartung machen. Dort wird sich Russlands "neuer starker Mann" um wirklich strategische Weichenstellungen bemühen müssen. In Asien entscheidet sich, ob Russland auf dem internationalen Parkett zukünftig wirklich ernst genommen wird: Die vergangenen zehn Jahre haben mehr als deutlich gemacht, dass Moskau den Schulterschluss mit führenden außereuropäischen Regionalmächten suchen muss, um Washington und Brüssel nachhaltig beeindrucken zu können. All dies will gründlich vorbereitet sein. Die westeuropäischen Fühlungnahmen Putins hätten diesbezüglich einen wichtigen Beitrag leisten können - das Gegenteil war der Fall. Nehmen wir nur die sicherheitspolitischen Visionen des Präsidenten, seine Idee einer gemeinsamen russisch-amerikanisch-europäischen Raketenabwehr. Wovon zeugt sie? Etwa von wachsender Kompromissbereitschaft Moskaus in der leidigen Raketenabwehrfrage? Russische Beobachter wiegeln ab: Mit seinem Vorstoß beabsichtige Putin lediglich, der Weltöffentlichkeit klar zu machen, wie ernst es den Amerikanern mit der Aushebelung des ABM-Vertrages sei. Russlands Vorschlag sei weniger Ausdruck von Kompromissbereitschaft in Sachen ABM als vielmehr der Versuch, die Amerikaner als die allein Verantwortlichen für das Scheitern des ABM-Vertrages vorzuführen. Die Amerikaner würden sich niemals auf ein solches Abwehrsystem einlassen. Sie durch eine entsprechende Initiative jedoch zu zwingen, dies öffentlich zuzugeben, würde Russlands künftige Verhandlungsposition erheblich stärken. Tatsächlich? Das Tückische am ABM-Vertrag ist, dass er nicht einmal den Hauch eines Kompromisses - egal ob strategischer oder taktischer Natur - duldet. Putins Idee ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn aus ihr überhaupt jemand einen Vorteil zieht, so sind dies die Amerikaner: Nach allem, was bisher bekannt wurde, schwebt Moskau ein ABM-kompatibles Raketenabwehrsystem vor, das Interkontinentalraketen eines eventuellen Aggressors bereits in der Startphase zerstört (Boost-Phase-TMD). Ein solches System müsste also rein taktischer Natur sein. Allerdings: Selbst die modernsten taktischen Antiraketen-Waffen Russlands (S-300PMU, SPK S-300FM und S-400 Triumf) verfügen nicht über die nötige Reichweite, um etwa irakische, iranische oder nordkoreanische Interkontinentalraketen in der Startphase zu vernichten. Noch problematischer an Putins Vorstellungen ist aber die Akzeptanz der bisherigen amerikanischen "Schurkenstaaten"-Theorie - des zentralen Vehikels zur Aufrechterhaltung der letzten großen Mär des Kalten Krieges, zur Rettung des wichtigsten Ideologems, das jemals erdacht wurde, um den globalen Führungsanspruch der USA zu rechtfertigen: der Mär von der "Freien Westlichen Welt". Wesentliches Anliegen russischer Außenpolitik sollte es statt dessen sein, diese Mär zu demontieren: Etwa durch enge Kooperation mit der europäischen Staatenwelt auf Grundlage einer kreativen Kontinental-Philosophie, die sich aus der Überzeugung speist, dass Europa nicht Teil einer imaginären "westlichen Welt" ist, sondern eine spezifische zivilisatorische Einheit in Vielfalt, wenn auch durch diverse Fäden eng verbunden sowohl mit der europazifischen Zivilisation Nordamerikas als auch der euroasiatischen Zivilisation Russlands. Stattdessen buhlt Russland um die Gunst des "Westens" und will Teil der "westlichen Welt" werden. Auch mit Putin gibt es in dieser Hinsicht keinerlei Neuanfang, im Gegenteil: Zuerst phantasiert sein Quasi-Sicherheitsberater Sergej Jastrschembskij lauthals über "Präventivschläge" gegen die afghanischen Taleban, dann einigt sich Russlands neuer Präsident mit seinem scheidenden amerikanischen Amtskollegen in Moskau auf ein Gemeinsames Raketenfrühwarnzentrum, das besonders die Amerikaner in die Lage versetzt, sämtliche Raketenstarts Chinas und Indiens zu überwachen. Schließlich und endlich überrascht der dynamische Präsident mit der Idee besagter gemeinsamer Raketenabwehr... Auch wenn Moskaus Diplomaten nicht so recht sagen können (oder dürfen), von wem sich Russland eigentlich bedroht fühlt - in Peking, Delhi, Pjöngjang und anderswo in der "nicht-westlichen Welt" dürfte man inzwischen eine relativ klare Vorstellung davon haben, gegen wen sich die jüngsten Moskauer Vorstöße richten. Während seiner Asienreise wird Putin deshalb viel Zeit darauf verwenden müssen, Russlands wahre sicherheitspolitische Absichten zu erklären, regionale Irritationen abzubauen, aufkommende Ängste zu zerstreuen. Zeit, die ihm fehlen wird, über dringend notwendige bilaterale und multilaterale Strategien zur Relativierung US-amerikanischen Hegemonialstrebens zu reden.
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