Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Kazimierz Henrykowski Der fotografische Nachlass des wenig bekannten polnischen Autors wurde von seinen Kollegen Karsen Hein zu einen Fotoroman verarbeitet, der zum Schauen udn Fragen anregt.

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Das Buch gibt Rätsel aus und lässt den Betrachter nicht mehr los. Gleich auf mehreren Ebenen bleiben am Ende viele Fragen offen. Vordergründlich geht es um den fotografischen Nachlass des bei einem Verkehrsunfall gestorbenen polnischen Fotografen Kazimierz Henrykowski. Nach dessen Tod will sein Nachbar und Kollege Karsten Hein als Vermächtnis das Fotoalbum veröffentlichen, mit dem Henrykowski sich in den letzten Monaten seines Lebens beschäftigte und dass von anderer Arbeit immer mehr abhielt. Er musste sogar sein Atelier verlassen und in einen Kellerraum ziehen, weil er kaum noch etwas verdiente. Die Fotos drehen sich um eine geheimnisvolle Frau, der Henrykowski zufällig begegnete und die er zunächst heimlich fotografiere. Bald stellte sich heraus, dass die Frau etwas sucht, was mit der Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD zu tun hat. Sie sucht ein linkes Archiv in Berlin-Kreuzberg, interessiert sich für alte Fahndungsplakate, auf denen vermeintliche oder tatsächliche Aktivsit_innen der westdeutschen Stadtguerilla gesucht wurden. Doch es bleibt unklar, welche Beziehung die Frau zu dieser Geschichte? Gehörten Verwandte zu den Mitgliedern oder war sie selber sogar an dem Kampf beteiligt? Schließlich sieht ihr eine Frau auf dem Fahndungsplakat sehr ähnlich. Auch auf diese frage gibt es im Buch keine Antwort. Nicht nur Henrykowski ist, auch die geheimnisvolle Fremde, verschwindet aus der Geschichte. Ohne Abschied hat sie Berlin verlassen. Niemand weiß, wo sie geblieben ist und ob sie überhaupt noch lebt. Zurück blieben die Fotos als Zeugnisse von einem Leben, dass wir von Außen wie durch ein Fenster in Ausschnitten betrachten.

Eine linke Zeitreisende

Hein hat die Fotos so zusammengestellt, wie er dachte, dass es auch Henrykowski gefallen hätte, den er allerdings nicht wirklich gut kannte. Wir sehen nun die geheimnisvolle Frau, wie sie zu Fuß mit einem Rollkoffer vom Flughafen Tegel in die Berlin City geht, wie sie ihr Gepäck in Schließfächern von Bibliotheken aufbewahrt, wie sie Bücher und Broschüren durchblättert. Später, als sie Henrykowski zum offizieller fotografischen Begleiter ihrer linken Zeitreise gemacht hat, gibt es auch persönlichere Fotos. Sie durchstöbern ein Archiv der linken Zeitgeschichte nach Druckschriften, die es nicht in die Bibliotheken geschafft haben, aber in der revolutionären Linken der späten 60er Jahre eine wichtige Rolle spielten. Später sehen wir die Frau beim Joggen und als Besucherin bei Freund_innen von Henrykowski. Die beeindruckenden Fotos sind nur mit einem spärlichen Begleittext versehen, der oft fast poetisch die Wirkung der Fotos noch verstärkt. Man muss sich die Fotos mehrmals anschauen und entdeckt immer neue Details eines Puzzles der linken Geschichte. So steht auf einen Aktenordner, den die Frau neben ihren Sitz gestapelt hat, „Sachakte im Ermittlungsverfahren gegen Rudolf Schindler“. Manche werden sich noch schwach erinnern, dass Rudolf Schindler in den Jahren 2000 und 2001 als Angeklagter im Prozess gegen die Revolutionären Zellen (RZ) für Schlagzeilen sorgte. Dort mussten unter Anderen die Grünen Politiker Josef Fischer und Daniel Cohn-Bendit sowie der RZ-Aussteiger Hans-Joachim Klein in den Zeugenstand. Alle vier kannten sich aus der hessischen außerparlamentarischen Linken der späten 60er Jahre. Doch der 1942 geborene Schindler war damals bereits Geschäftsführer des Ostermarsch-Büros und der Kampagne gegen Abrüstung. Diese Organisationen haben Fischer, Cohn-Bendit und Klein damals als reformistisch bestenfalls belächelt wahrscheinlich aber nicht einmal beachtet. Dass im Jahr 2000 die jungen Radikalen von Einst als Minister oder Europaabgeordnete im Zeugenstand erschienenen und der ehemalige Geschäftsführer der Friedensbewegung als Radikaler angeklagt war, macht auch deutlich, dass die linke Zeitreise voller Kurven und Windungen ist. Und das Buch macht es immer wieder in den wenigen kompakteren Textblöcken deutlich.

Freiheit für Irmgard Möller immer noch

So gibt es eine kurze philosophische Betrachtung zur Bedeutung der Mnemonik, eine jahrtausendelang praktizierte Gedächtniskunst, die in Zeichen der elektronischen Speichermedien verloren gegangen ist. Doch ist das nicht auch ein großer Verlust. „Die Mnemonik war die Kunst, dem Geist mit Hilfe eines wohlgeordneten und trainierten Gedächtnisses Handlungsfreiheit und Spielraum zu verleihen, zur Steigerung dessen, was wir heute Kreativität nennen“, heißt es in dem Text. Am Ende des Bandes wird mit einen Texten von Karl Heinz Dellwo ein Link zu den bis heute ungeklärten Todesfällen von 3 RAF-Gefangenen an 18.10.1977 in Stuttgart-Stammheim hergestellt. Dabei ist eine Stärke, dass Dellwo mit seinen Texten Fragen stellt, aber keine Antworten gibt. Diejenigen, die die offizielle Selbstmordversion verbreiten und alle Zweifel notfalls juristisch verbieten wollen, werden dabei sowieso nicht auf ihre Kosten kommen. Dellwo, der als RAF-Mitglied mehr als 2 Jahrzehnte im Gefängnis verbrachte, davon die meiste Zeit in Isolationshaft, bedient aber auch nicht scheinbare linke Gewissheiten. Über die Toten von Stammheim schreibt Dellwo: „Sie sind gegangen, so wie die Frau aus dem Buch verschwindet die auftaucht und ihre Schwester – oder sich – sucht und geht und keine Aufklärung und keine Entscheidung hinterlässt“. Ein schöner fast poetischer Satz, den nur jemand formulieren kann, der nicht nur eine Utopie sondern den Kampf mit den Toten geteilt hat. Dellwos Text endet mit der Forderung „Freiheit für Irmgard Möller“, der mehr als ein Jahrzehnt auf vielen linken Plakaten stand, die die Freilassung der einzigen Überlebenden der Stammheimer Todesnacht forderten. Sie betont bis heute, dass sie sich ihre schweren Verletzungen nicht selber beigebracht hat. Wenn der Spruch heute wieder auftaucht mit dem Wissen, dass die ehemaligen RAF-Mitglieder sich gerade auch um die Einschätzung des 18.10.1977 zerstritten haben, dann klingt dieser Satz, auch wie eine Aufforderung, Irmgard Möller zu befreien von der Last, immer die letzte Überlebende von Stammheim sein zu müssen und ihr damit eine fast unmenschliche Verantwortung aufzubürden. Das gesamte Buch, die Fotos und der sparsame aber sehr eindrucksvolle Text laden immer wieder ein neu zu blättern, an einen Detail hängen zu bleiben und das Nachdenken von neuen zu beginnen.

Peter Nowak

Das vierte Album

Fotoroman

Karsten Hein, Kazimierz Henrykowski

ISBN: 978-3-99028-346-2
20 x 28 cm, 238 Seiten, überw. Ill., Hardcover
€ 28,00, ISBN: 978-3-99028-346-2

http://www.bibliothekderprovinz.at/buch/6857/

Link zum Autor:

http://karstenhein.com/

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Geschrieben von

Peter Nowak

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