Die toten Flüchtlinge und die Einheitsfeier

Tod vor Lampedusa Es war ein Zufall, dass eine dreistellige Zahl von Flüchtingen am 3.10. vor Lampedusa ums Leben kam. Es war aber kein Unglück, sondern die Folge europäischer Politik
Italienische Polizisten neben den Leichen der Flüchtlinge
Italienische Polizisten neben den Leichen der Flüchtlinge

Foto: STRINGER/AFP/Getty Images

Im November 2012 richtete die damals neugewählte Bürgermeisterin von Lampedusa Giusi Nicolini mit einem kurzen Brief einen dramatischen Appell an die Bürger Europas.

„Ich bin die neue Bürgermeisterin von Lampedusa. Ich wurde im Mai 2012 gewählt, und bis zum 3. November wurden mir bereits 21 Leichen von Menschen übergeben, die ertrunken sind, weil sie versuchten, Lampedusa zu erreichen.

Das ist für mich unerträglich und für unsere Insel ein großer Schmerz. Wir mussten andere Bürgermeister der Provinz um Hilfe bitten, um die letzten elf Leichen würdevoll zu bestatten. Wir hatten keine Gräber mehr zur Verfügung. Wir werden neue schaffen, aber jetzt frage ich: Wie groß muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden? Ich bin über die Gleichgültigkeit entrüstet, die alle angesteckt zu haben scheint; mich regt das Schweigen von Europa auf, das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, und nichts sagt, obwohl es hier ein Massaker gibt, bei dem Menschen sterben, als sei es ein Krieg.“

Jedes dieser Worte ist gerade heute wieder aktuell, da der Fernsehzuschauer ganz nahe mit dem täglichen Sterben in Lampedusa konfrontiert wird. Eine dreistellige Zahl von Flüchtlingen ist in der Nacht zum 3. Oktober ganz in der Nähe von Lampedusa ertrunken. Angeblich wollten sie mit einen brennenden Tuch auf sich aufmerksam machen, als das mit 500 Menschen völlig überfüllte Boot sank.

Die toten Flüchtlinge und die Deutschlandfeier in Stuttgart

Zufällig fand das jüngste Massensterben im Mittelpunkt der Nacht zum 3. Oktober statt, dem Tag, an dem das offizielle Deutschland das Ende der Teilung feiert und so viel von fallenden Mauern und offenen Grenzen die Rede ist. Welcher der Politiker, der heute in Stuttgart die Deutschlandfeier zelebriert, hat aus dem Brief der Bürgermeisterin zitiert oder die toten Flüchtlinge auch nur erwähnt? Wer hat nur einen Gedanken daran verschwendet, dass die tödlichen Grenzen nur verlegt wurden, unter anderen ins Mittelmeer.

Die Toten im Mittelmeer gehen auch und gerade die Menschen in Deutschland an. Schließlich sind sie eine Folge der europäischen Flüchtlingspolitik, die maßgeblich von Deutschland vorangetrieben wird und dafür sorgt, dass kaum noch Flüchtlinge nach Deutschland gelangen. Wenn sich Menschen trotzdem bis nach Deutschland durchschlagen und nicht als Bittsteller auftreten, sondern ihr Recht auf Bewegungsfreiheit einfordern, wie die libyschen Flüchtlinge, die über Italien nach Deutschland gekommen sind, versuchten die Landesregierungen und die Bundesregierung alles, um die Menschen zur Ausreise zu zwingen.

Dabei haben sie die Unterstützung von großen Teilen der Bevölkerung. Für die meisten bedeutet die Freude über den Fall der deutschen Mauer eben nicht eine wirkliche Kritik an Grenzen, die Menschen an ihrer Bewegungsfreiheit verhindern. Es geht ihnen nur um deutsche Bewegungsfreiheit.

Als 2011 auf der zentralen Gedenkveranstaltung zum fünfzigsten Jahr des Mauerbaus ein Redner aus dem christlichen Spektrum an das Schicksal von Flüchtlingen heute erinnerte, erntete er wütende Zwischenrufe und Pfiffe. Wenn Fluchthelfer und Flüchtlinge als Helden geehrt werden, sind nicht die Menschen gemeint, die im Mittelmeer vom brennenden Schiff gerettet werden.

Der vollständige Wortlaut des Briefes der Bürgermeisterin von Lampedusa:

http://vmv.ch/joomla/index.php?option=com_content&task=view&id=746&Itemid=42

Link zur Flüchtlingsinitiative Lampedusa-Hamburg:

http://lampedusa-in-hamburg.tk

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Geschrieben von

Peter Nowak

lesender arbeiter

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