Die Vorgeschichte der Krise in der Türkei

Im Gespräch Der Regisseur Imre Azem Balanli erzählt in seinem Film "Ekümenopolis" wie es zur aktuellen Krise in der Türkei kam. Sie hat viel mit der Baupolitik der Regierung zu tun

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Kampf gegen die Räumgspolitik in Istanbul
Kampf gegen die Räumgspolitik in Istanbul

Foto: MUSTAFA OZER/ AFP/ Getty Images

Peter Nowak: In Istanbul ist die Umstrukturierung in vollem Gange und wird mit der AKP-Regierung verbunden. Welches ökonomische Modell steht dahinter ?
Imre Azem Balanli: Die türkische Regierung will Istanbul zur Global-City und zum führenden Finanzzentrum des Nahen Osten machen. Der Staat schafft dafür die Gesetze und beseitigt die Hindernisse. Allerdings begann diese Entwicklung nicht erst mit der AKP-Regierung, sondern schon mit dem Militärputsch 1980. Das war der Beginn des Neoliberalismus in der Türkei.
Welche Auswirkungen hatte dieser Einschnitt auf die Wohnungspolitik ?
In den 70er Jahren war eine Wohnung in der Türkei noch eine private Investition in die Zukunft. Das hat sich in den 1980er Jahren verändert. Seit dieser Zeit wurden Wohnungen zum Spekulationsobjekt, mit denen Profit gemacht werden konnte. Wie in vielen anderen Ländern wurde auch in der Türkei der Wohnungs- und Immobilienmarkt zum Zugpferd einer kapitalistischen Ökonomie, die komplett auf dem Import ausgerichtet ist. Während der AKP-Regierungszeit stiegen die Auslandsschulden der Türkei enorm an. Durch die Verkäufe im Wohnungssektor soll hier ein Ausgleich geschaffen werden.
Welche Anreize schafft die Regierung, um oft mit Verlust gebaute Wohnungen zu verkaufen ?
Wohnungen werden verstärkt ins Ausland verkauft. Vor zwei Jahren wurde die Limitierung für Immobilienverkäufe ins Ausland aufgehoben. Schon ein Jahr später wurden in die Golfstaaten Immobilien in Milliardenhöhe verkauft. Zudem wird im Inland die Herausbildung einer kaufkräftigen Schicht gefördert, die sich einen Kauf dieser Wohnungen leisten kann. Diese Entwicklung wird vom Staat gezielt vorangetrieben und geht mit der Vertreibung der bisherigen Bewohner einher, die sich die neuen teueren Wohnungen nicht leisten können. In diesem Zusammenhang steht der Kampf gegen die Arbeitersiedlungen, der sogenannten Gecekondular.

Warum sind sie zum Hindernis für eine Global-City geworden?

Die Gecekondular wurden in den 50er und 60er Jahren von Fabrikarbeitern gebaut, weil der türkische Staat nicht genügend Kapital hatte. Er gab den Arbeitern sogar staatliches Land, damit sie dort ein Haus bauen konnten. Es war eine Subvention der Arbeiter durch den Staat, mit dem sie an ihn gebunden werden sollten. Allerdings wurden diese Stadtviertel oft zu Hochburgen linker Gruppen, in denen eine für den Staat unerwünschte Gegenmacht entstand, die die mit repressiven Maßnahmen bekämpft wurde. Seit dem Aufkommen der Dienstleistungsgesellschaft sind die Arbeiter in der Stadt unerwünscht, weil sie nicht genügend Geld zum Konsumieren haben. Sie sollen aus der Innenstadt verschwinden. Die Politik der Stadterneuerung hat das erklärte Ziel, sie an den Stadtrand zu verdrängen.

Welche Schritte hat die AKP-Regierung unternommen ?
Sie hat ein Gesetz erlassen, dass die Errichtung weiterer Gecekondular verhindert. Die staatliche Wohnungsbaubehörde wurde in ein privates Bauunternehmen umgewandelt. Obwohl Gesetze zum Denkmalschutz erlassen wurden, konnten alte Stadtviertel abgerissen werden. 2012 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, dass die Wohnungen vor Naturkatastrophen sichern soll. Es ist heute das zentrale Instrument der Umstrukturierung.
Ist ein solches Gesetz angesichts der vielen Erdbeben in der Türkei nicht sinnvoll?
Die AKP sorgt für die autoritäre Durchführung der Gesetze, die von der Hauptstadt Ankara zentral beschlossen werden. Dafür ist das Ministerium für Umweltschutz und Stadtplanung verantwortlich. Es hat die Möglichkeit, ohne jegliche wissenschaftliche Untersuchung ganze Stadtteile als gefährdet zu erklären und abreißen zu lassen.
Wie reagieren die Bewohner darauf?
Sie haben keine Möglichkeit, gegen diese Entscheidungen Widerspruch einzulegen. Mittlerweile wurde ein Gesetz erlassen, dass Mietern mit Bestrafung und Verhaftung droht, wenn sie die Räumung zu verhindern wollen.
Gibt es Beweise, dass dabei der Schutz vor Erdbeben und andere Naturkatastrophen dabei keine Rolle spielen?
Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen. Ein Geceokondu in Istanbul war von zahlreichen Hochhäusern umgeben. Doch die wurden nicht abgerissen, obwohl sie bei einen Erdbeben wesentlich gefährdeter werden. Nur die niedrigen Arbeiterhäuser sollen verschwinden.
Was passiert mit den Bewohnern?
Wenn sie sich widersetzen, droht ihnen Bestrafung und ihr Grundstück wird enteignet. Wenn sie einem Umzug zustimmen, müssen sie in teuere Wohnungen am Stadtrand ziehen und verschulden sich bei einer privaten Bank. Wenn sie mit zwei Monatsraten in Verzug sind, verlieren sie ihre Wohnung. Neben den hohen Mietpreisen müssen die Kosten für die Betreuung der Grünflächen, die Gebühren für Hausmeister und Verwaltung noch extra bezahlt werden. Viele Menschen versuchen, mit zusätzlichen Jobs über die Runden zu kommen und ihre Schulden zu zahlen. Aber viele mussten erkennen, dass sie trotz aller Anstrengungen ihre Verpflichtungen nicht tragen können und ihre Wohnungen verlieren. Wir haben in unseren Film Ekümenopolis die Folgen gezeigt, die damit für die Betroffenen verbunden ist. Eine sechsköpfige Familie verliert ihre Wohnung, der älteste Sohn muss mit 14 Jahren die Schule verlassen und arbeitet für einen Hungerlohn in einer Textilfabrik. Er hat keine Chance mehr auf Bildung.
Gibt es Widerstand von Betroffenen ?
Ja, es gibt im ganzen Land immer wieder Proteste von Betroffenen, die aber lange Zeit kaum über einen regionalen Kontext hinaus wahrgenommen wurden. Beispielsweise haben Erdbeebenopfer in Van mit einem Hungerstreik dagegen protestiert, dass nun seit fast 15 Jahren in Baracken leben müssen. Seit einem schweren Erdbeben im Jahr 1999 wurden ihre Häuser nicht wieder aufgebaut. Die Regierung reagierte auf die Proteste mit Polizei und Repression.
Welche Rolle spielten die vom Gezipark ausgehenden Proteste in diesem Kontext?
Sie waren ein kollektiver Protest dagegen, dass aus Profitgründen in den öffentlichen Raum eingegriffen wird. Jahrelang waren die Proteste isoliert und fanden keine landesweite Beachtung. Der Geziprotest hat ein Bewusstsein für die Probleme der Stadterneuerung geschaffen und auch die Bedeutung der öffentlichen Grünflächen noch einmal hervorgehoben. Vier Jahre nach dem großen Erdbeben von 1999 hatte die Regierung einen Bericht in Auftrag gegeben, in dem Maßnahmen aufgelistet sind, die die Folgen eines erneuten Erdbebens für die Bewohner verringern sollen. Unbebaute städtische Flächen wie Stadien und Parks sollten als Treff- und Sammelpunkt der Bewohner nach einem Erdbeben fungieren. In dem Bericht waren mehr als 400 solcher Flächen in Istanbul vorgesehen. Im Jahr 2012 wurde die Hälfte dieser Plätze bebaut. Weitere sollen folgen. Der Gezipark ist einer dieser städtischen Plätze, die nicht bebaut werden sollen. Er wurde nun weltweit zum Symbol des Widerstands.
Was ist heute von den Protesten geblieben ?
Im ganzen Land haben sich neue Initiativen gebildet. Allein in Istanbul gibt es mehr als 60 Stadtteilforen. Ihre Hauptforderung ist die Rücknahme des Gesetzes zum Abriss von Stadtvierteln wegen dem Schutz vor Naturkatastrophen.
Ist die Dynamik der Anfangstage nicht zum Erliegen gekommen?
Es wurden auch die Grenzen und Probleme dieses Widerstands deutlich. Dazu gehörte die Konfrontation zwischen Wohnungseigentümern und Mietern in den Stadtteilen. In Stadtteilen, in denen der Alltagswiderstand schwach entwickelt ist, gibt es auch kaum Möglichkeiten sich gegen die Vertreibung aus den Wohnungen zu organisieren.
Wie ist das Verhältnis der neuen Bewegung zur radikalen Linken in der Türkei, die schon vor den Gezi-Protesten gegen Umstrukturierung aktiv waren?
Die linken Gruppen haben den Widerstand in den Stadtteilen mit aufgebaut, in denen sie aktiv sind. In der Bewegung des Geziparks und des Taksimplatzes arbeiten die unterschiedlichen Gruppen solidarisch zusammen. Als in der letzten Woche der junge Kommunist Hasan Ferit Gedik in einen Istanbuler Gecekondu von der Polizei erschossen wurde, protestieren sämtliche Teile der Bewegung.
Sie haben in Berlin einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Wohnen in der Krise" gehalten. Welche Bedeutung hat die Vernetzung des Mietenwiderstands ?
Die Politik der Verdrändung einkommensschwacher Menschen ist ein weltweites Problem. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass sich die Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern austauschen und voneinander lernen. Ich sehe es als einen doppelseitigen Prozess.
Das Gespräch führte Peter Nowak

Der Vortrag des Interviewpartners im Rahmen der Reihe "Wohnen in der Krise" kann hier abgerufen werden:

http://www.youtube.com/playlist?list=PLMiTvjX07b8cuBO9YJCpNhAtkY3lB4otj

Hier gibt es Infos zur Veranstaltungsreihe, die noch weitergeht:

http://www.bmgev.de/politik/veranstaltungsreihe-13.html

HIer kann man den FilmEkumenopolis im Netz sehen:

http://www.ekumenopolis.net/

Einige Videos aus dem linken Widerstand in der Türkei finden sich hier:

http://www.filmpiraten.org/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Nowak

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