Ein Blick in den syrischen Abgrund

Heimathafen Neukölln Und jetzt bitte direkt in die Kamera heißt das Stück des Theaterautors Mohammed Al Attar, das Erkenntnisse über Syrien und die Knastsysteme der Welt vermittelt

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Ein Blick in den syrischen Abgrund

Foto: Louai Beshara / AFP / Getty Images

Die Proteste gegen das autoritäre Barth-Regime in Syrien sind mittlerweile von islamistischen Rackets gekapert worden, die von Saudi Arabien und anderen Diktatoren gesponsert werden. Das syrische Regime wiederum läßt mit der Hisbollah die Aufstände niederschlagen. Auf beiden Seiten werden schwere Menschenrechtsverbrechen begangen und die Siegesmeldungen von Regime und Freier Syrischen Armee sind nicht überprüfbar. Aber jede dieser Meldungen bedeutet für die Menschen in den betroffenen Regionen neuen Schrecken.

Der Dramatiker Mohammed Al Attar gehört zu wenigen Menschen, die es geschafft haben, diesen Horror zu entkommen. Er hat mit dem Theaterstück „Und jetzt bitte direkt in die Kamera“, das in einer extra dafür angemieteten Lokation in unmittelbarer Nähe des Berliner Herrmannplatzes vom Heimathafens Neukölln aufgeführt wird, ein beeindruckendes Stück über die syrische Realität auf die Bühne gebracht . Im Mittelpunkt des von der Regissuerin Lydia Ziemke realisierten Stück steht das Geschwisterpaar Noura und Ghassan, die beide dem syrischen Mittelstand angehören, in Damaskus leben und ein gutes Verhältnis zueinander haben, bis der Aufstand beginnt. Die Journalistin Noura fühlt sich schuldig, dass sie nicht den Mut findet, sich den Protesten anzuschließen. Sie traue sich nicht einmal, an einer Demonstration teilzunehmen, gesteht sie. Doch was sie statt dessen plant, ist nicht weniger gefährlich, warnt sie ihr Bruder immer wieder in lange Gesprächen, die zunehmend in Streit Geschrei enden. Denn Ghassan ist sicher kein Assad-Parteigänger, aber ein Business-Mann, der eine Zukunft in Chaos und islamistischen Terror fürchtet. „Das ganze Land steht am Abgrund. Ich weiß Sachen, von denen Du nicht mal den Hauch einer Ahnung hast“, wirft er Schwester am Ende eines dieser Streitgespräche an den Kopf. Die hat sich zum Ziel gesetzt, die Berichte der Folteropfer filmisch zu dokumentieren. Sie spricht mit Menschen, die von der Straße weg in die Folterzellen verschleppt wurden. Eine Frau mit Kopftuch bekennt, dass ihr der Koran geholfen hat, in der Zelle zu überleben. Ein junger Mann mit Base-Cap berichtet stockend, wie er mit Elektroschocks gefoltert wurde.

Wenn die Realität zur Fiktion wird

Dem Regisseur und den vorzüglichen Schauspieler_innen gelingt es, die verworrene Situation, in der sich Syrien zurzeit befindet, hervorragend auf die Bühne zu bringen. Obwohl die Grundsympathie mit den Zielen des Aufstands deutlich wird, werden aus dem Mund von Ghassan auch die Ängste und Befürchtungen einer syrischen Mittelschicht ausgesprochen, die in vielen Medien vor schnell zu Parteigänger_innen des Regimes erklärt werden, weil sie sich dem Widerstand nicht anschließen. Schließlich hinterfragt Noura ihre journalistische Arbeit auch immer wieder. Ist es wirklich eine Unterstützung des Widerstands oder will sie damit nur ihr Gewissen beruhigen? Zaid, einer der in der Polizeizelle gefolterten Demonstranten, spricht auch die persönliche Note der langen Gespräche an: „Die Menschen reden auch gerne, weil es ihnen hilft, das Erlebte zu verarbeiten. Je öfter man von der ganzen Scheiße erzählt, desto schneller wird die Realität zur Fiktion. Das Geschehene ist dann irgendwann nichts weiter als eine Geschichte. Es ist nur ein einziges Mal passiert und wird sich nicht wiederholen.“ Doch selbst das bleibt ein frommer Wunsch. Am Ende wird Noura verhaftet und das gesamte Material gerät in die Hände der Staatsorgane. Die erneute Verfolgung beginnt. Das Stück endet so nach knapp 100 Minuten mit der Frage, ob so die engagierte Arbeit der Journalistin nicht nur erfolglos war, sondern den Oppositionellen nicht noch geschadet hat. Darüber können die Zuschauer_innen heute in Berlin mit dem Regisseur im Anschluss an das Stück diskutieren. Es ist zu hoffen, dass die Debatte genau so differenziert und jenseits der vermeintlichen Gewissheiten verläuft, wie das Stück. Es handelt über die momentane Situation in Syrien, aber auch über das Knastsystem überall auf der Welt. Im Programmheft sind Textausschnitte von Jürgen Fuchs sowie Paul und Sigrid Mauer über ihre Haft in der DDR und ein Abschnitt aus Murat Kurnaz Bericht aus Guantanamo abgedruckt. Es wäre mutig gewesen, auch einen der vielen Texte von Gefangenen aus der BRD abzudrucken. Als Exempel ist ein Ausschnitt aus dem Brief von Ulrike Meinhof aus dem Toten Trakt in Köln Ossendorf aufgeführt, den sie in der Zeit vom 16.6.72 bis 9.2.73 verfasste:

"Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen,abplatzen) -das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt,das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen, wie Backobst z.B.das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert -das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt -das Gefühl, man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann -das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: die Zelle fährt; nachmittags, wenn dieSonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen."

Peter Nowak

Vorführtermine

06.7. und 7.7. 20:00 UHR | PIER 9UND JETZT BITTE DIREKT IN DIE KAMERA! (Im Pier 9 - Probebühne am Hermannplatz)

Mohammad Al Atta wird bei den Aufführungen am 6. Juli zu Gast sein und im Anschluss an die Vorstellungen im Publikumsgespräch Fragen beantworten.

http://heimathafen-neukoelln.de/spielplan?url=UndJetztBitteDirektInDieKamera

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Geschrieben von

Peter Nowak

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