Ein neuer Blick auf die DDR

Horst Gobrecht Der Gewerkschafter hat Pionierarbeit beim Umgang mit der DDR-Geschichte geleistet, in dem er den Fokus auf zwei kommunistische Dissidenten legte

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Still aus dem Trailer des Films "Comrade, Where Are You Today?"
Still aus dem Trailer des Films "Comrade, Where Are You Today?"

Foto: Screenshot, Youtube www.youtube.com/watch?v=fVEX1scDgwk

Das Todesurteil für Alfred Nothnagel hatten die Nazis schon geschrieben. Seine Frau Else hatte sich schon innerlich von ihren Mann verabschiedet. Doch die beiden Antifaschisten überlebten die braune Diktatur, beteiligten sich noch am Aufbau der DDR, gerieten in die Mühlen der stalinistischen Repression, wurden aus der SED ausgeschlossen und wieder rehabilitiert. Bei aller Kritik am Dogmatismus der SED standen sie in prinzipieller Solidarität zur DDR, deren Untergang beide noch in hohem Alter erlebten. Else Nothnagel starb 1993, ihr Mann 1999. Der Gewerkschaftler und Journalist Horst Gobrecht hat jetzt im GNN-Verlag über die Vita von Else und Alfred Nothnagel ein Buch herausgegeben. Es macht uns mit den Leben von Menschen bekannt, die als absolute Minderheit im NS-Deutschland Widerstand leisteten und auch innerhalb der antifaschistischen Linken oft in der Minderheit waren. Beide gehörten in Leipzig zur Jugendorganisation der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die sich für eine Einheitsfront aller Hitlergegner_innen einsetzte. Damit standen sie im Widerspruch zur offiziellen Politik von SPD und KPD. Im Buch wird gut herausgearbeitet, wie die Nothnagels enger mit der KPD zusammenarbeiteten, nachdem die auf die Politik der Volksfront eingeschwenkt war.

Wie realistisch war die Taktik des Trojanischen Pferdes?

Ausführlich geht Gobrecht auf die Arbeit der Antifaschist_innen in der NS-Freizeitorganisation Kraft durch Freude (KdF) in Leipzig ein. Nach der Taktik des Trojanischen Pferdes wollten sie innerhalb der Massenorganisation der Nazis die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit im NS deutlich machen. Gobrecht setzt sich kritisch mit der These des Historikers Alexander Lange auseinander, der das Eindringen der Antifaschist_innen im KdF eher als Überwintern in schweren Zeiten denn als aktiven Widerstand klassifiziert. Er weist hingegen nach, dass die Jugendlichen Kontakte zu sowjetischen Kriegsgefangenen in Leipzig aufgenommen hatten und sogar Waffen für das illegale Buchenwaldkomitee organisierte. Allerdings kam die Übergabe nicht zustande.Es sollte auch erwähnt werden, dass gerade von linken Kommunist_innen diese Taktik des Trojanischen Pferdes, die ohne ein scheinbares Einlassen auf die Organisationen des NS-Staates nicht machbar war, verworfen aben. So lehnte es die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) nach 1933 ab, in die NS-Organisationen einzutreten. Zudem bleibt die Frage offen, wie konnten seit der Weimarer Zeit bekannte NS-Gegner_innen eigentlich in diesen Organisationen wirklich systemkritisch wirken? Standen sie nicht unter besonderer Beobachtung der Nazis? Gerade das Beispiel von Alfred Nothnagel macht ja auch deutlich, wie schnell sie dann wieder der Repression ausgesetzt waren. Damit soll das antifaschistische Engagement der Nothnagels nicht infrage gestellt werden. Doch musste die Taktik des Trojanischen Pferdes in den NS-Organisationen nicht automatisch dazu führen, dass es zumindest oberflächlich so schien, dass selbst vorher bekannte Antifaschist_innen jetzt in den NS-Organisationen arbeiteten und Widerstand außerhalb dadurch noch mehr diskreditiert wurde?

Gegen DDR-Mythen

Ins Reich der Legende verweist Gobrecht allerdings auch die Lesart der SED, nach der die Leipziger Antifaschis_innen unter Führung der KPD agierten. Der Autor weist nach, dass die NS-Gegner_innen oft isoliert waren und von den Direktiven der KPD viele Jahre später gelesen haben. Für Gobrecht ist es gerade eine Auszeichnung, dass die Kommunist_innen „auch tatsächlich bereit waren, selbstständig politisch zu handeln, statt auf eine (wirkliche oder imaginäre) operative Leitung der KPD innerhalb Nazideutschlands zu warten“. Gobrecht beschreibt, wie sich Alfred Nothnagel Mitte der 1960er für die Entmythologisierung der Geschichte des Leipziger Widerstands einsetzte. Es war nicht sein einziger Kampf gegen den Dogmatismus der Funktionäre. Ausführlich widmet sich Gobrecht der Streitfrage, ob es sich bei der SED um eine erzwungene oder erkämpfte Einheit handelte. Dabei kommt er zu dem Fazit, dass nicht die Vereinigung, sondern die nachfolgende Stalinisierung das Problem war. Der Vereinigungsprozess sei spätestens in dem Augenblick gescheitert, als alle Mitglieder linker Organisationen außerhalb der KPD wie Parteifeinde behandelt wurden, sie sich rechtfertigen mussten. Auch die Nothnagels blieben davon nicht verschont. Nachdem Alfred bereits wegen seiner SAP-Vergangenheit angegriffen wurde, bedeute sein couragiertes Agieren am 17.Juni 1953 endgültig das Aus in der SED. Er stellte sich als Direktor der VEB Volltuchwerke in Kirchberg der Kritik der Arbeiter_innen und meldete sogar eine Kundgebung an. Dafür wurde er beschuldigt, gegen das von der Sowjetischen Militäradministration erlassene Versammlungsverbot verstoßen zu haben. Der Parteiausschluss war die Folge. Die Nothnagels müssen wieder ganz von vorn beginnen. Doch sie blieben Kommunist_innen und kuschten nie vor Funktionär_innen. Als Alfred Nothnagel 1968 die Parteimitgliedschaft wieder zuerkannt wurde und aufgefordert wurde, sein Parteibuch abzuholen, lehnte er ab. Man müsse es ihm schon vorbeibringen. Schließlich habe man das Parteibuch genommen. Tatsächlich kam ein Funktionär bei den Nothnagels vorbei und überreichte ihm den Parteiausweis.

Die Kommunist_innen und die deutsche Volksgemeinschaft

Interessant ist auch, wie realistisch die Kommunist_innen intern die Stabilität der deutschen Volksgemeinschaft, die auch viele Arbeiter_innen einschloss, einschätzen. 1942 erklärten die Antifaschst_innen sowjetischen Kriegsgefangenen, mit denen sie unter Lebensgefahr Kontakt aufgenommen hatten, dass „der größte Teil des deutschen Volkes nationalistisch verhetzt, korrumpiert und noch siegeszuversichtlich ist“. Davon waren auch ehemalige NS-Gegner_innen nicht gefeit. So zitiert Gobrecht aus den Notizen Nothnagels nach den Blitzsiegen der deutschen Wehrmacht: “Diese raschen Erfolge der faschistischen Armeen verwandelten die ideologisch-politischen Strömung in eine begeisterte Siegesstimmung. Nationalismus und Chauvinismus erfassten vor allem das Kleinbürgertum und drangen auch in die Arbeiterklasse ein. Diese herrschende faschistische Ideologie und der Terror erschwerten ungeheuer unsere antimilitärische und auf die Niederlage Hitlerdeutschlands orientierte Propaganda. Selbst ehemalige Funktionäre des KJVD, der SAJ und der SJV schätzten nach den Balkanfeldzug den Sieg Hitlerdeutschlands als endgültig ein“. Auch in der Gründungsphase der SED war den Sozialist_innen und Kommunst_innen noch bewusst, wie stark große Teile der Arbeiterklasse in Deutschland in das NS-System verstrickt waren. Erst nachdem die Kommunist_innen mit der DDR ihren eigenen Staat gemacht hatten und kein anderes Volk wählen konnten, begannen sie mit der politisch katastrophalen Entschuldigung der deutschen Bevölkerung und entnazifizierten zumindest die Bevölkerung der DDR.

Zäsur in der historischen Auseinandersetzung mit der DDR

Gobrecht hat mit dem Buch eine wichtige Pionierarbeit geleistet. Es ist an der Zeit, dass wir uns mit den vielen Kommunist_innen und Sozialist_innen beschäftigen, die in und außerhalb der SED für eine Gesellschaft kämpften, in deren der Schwur von Buchenwald „nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg“ Leitlinie der Politik wird. Das wäre eine Zäsur, in einer Zeit, in der die ideologischen Staatsapparate viel Geld dafür ausgeben, um die DDR als Reich des Bösen in die Köpfe der Menschen zu bringen. Gobrecht verfällt nun auch nicht in den anderen Fehler, den viele Kritiker_innen des herrschenden Antikommunismus machen, in dem sie die Realität in der DDR verklären und die verheerende Rolle des Stalinismus entweder ignorieren oder gar affirmieren. Allein das Schicksal der Nothnagels und vieler anderer dissidenter Linker verbietet das. In dem Buch erhalten wir auch manche überraschende Information, so dass sich die KPD und später die SED für die Absenkung des Wahlalters auf 18 Jahre einsetzten und damit Widerspruch bei allen anderen Parteien kassierte.

Comrade - where are you today?

Dass es in der DDR ein Ausländer_innenwahlrecht gab, dürfte auch kaum bekannt sein und passt auch nicht zur offiziellen Propaganda. Das erfahren wir in dem Film „Comrade, where are you today?“ der finnischen Regisseurin Kirsi Marie Liimatainen. Sie war als junge Sozialistin 1989 Teilnehmerin eines Lehrjahrs in der FDJ-Jugendhochschule Wilhelm Pieck. 24 Jahre später suchte sie ihre Kommiliton_innen aus aller Welt und wollte wissen, was aus ihnen geworden ist und ob sie weiter an den großen Traum arbeiten, der sie für ein Jahr in die DDR geführt hatte: der Aufbau einer Welt ohne Ausbeutung und Krieg. Sie besuchte die Genoss_innen in Bolivien, Chile, dem Libanon und Südafrika. Nicht alle sind mehr in einer Kommunistischen Partei, viele haben scharfe Kritik an Dogmatismus und autoritärer Strukturen. Doch alle Protagonist_innen denunzieren den Traum einer ganz anderen Welt nicht, sie sind nicht zum vorerst siegreichen Kapitalismus übergelaufen. Besonders eindrucksvoll schildert der südafrikanische Genosse, welch wichtige Rolle für die Befreiungsbewegung gegen die Apartheid die Unterstützung aus der DDR war. Die südafrikanischen Genoss_innen durften an den DDR-Wahlen mit der Begründung teilnehmen, dass sie hier leben und daher hier mitentscheiden können. Diese Begründung sollten Antirassist_innen heute auch verwenden, wenn sie dafür eintreten, dass das Wahlrecht nicht vom Pass abhängig sein sollte. Der südafrikanische Genosse hat auch daran erinnert, dass die BRD in der Zeit, in der in der DDR die Kämpfer_innen gegen die Apartheid unterstützten, das Apartheidsystem auf allen Ebenen, politisch und wirtschaftlich verteidigte. Genau wie Horst Gobrechts Buch ist auch der Film von Kirsi Marie Liimatainen ein Meilenstein. Die DDR wird nicht verteufelt oder verherrlicht, sondern mit all den Widersprüchen dargestellt, die sie hatte. Beides ist empfehlenswert.

Peter Nowak

Gobrecht Horst, Entweder wir sind einig- oder wir sind nichts! Else und Alfred Nothnagel – Leipziger Jugendliche in antifaschistischen und sozialistischen Kämpfen“, GNN Verlag, 18 Euro, ISBN: 978-3-89819-418-1

Comrade, Where Are You Today?

Deutschland, Finnland 2016 / Dokumentarfilm / 110 Minuten / Regie: Kirsi Marie Liimatainen / ab 12 Jahren freigegeben

Link zum Buch:

http://gnnverlag.de/produkt-uebersicht/zeitgeschichte/entweder-wir-sind-uns-einig-0der-wir-sind-nichts/

Link zum Film:

http://www.wfilm.de/comrade-where-are-you-today/

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Geschrieben von

Peter Nowak

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