Eine deutsche Familie vor 40 Jahren

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Der Horror das sind nicht die Anderen, die Fremden, der Horror beginnt meist in den eigenen vier Wänden. Diese Botschaft nimmt der Zuschauer der Theateraufführung „Aus dem Nest geworfen“ mit, wenn er den Vorführraum des "Theaters im Schokohof" in Berlin-Mitte verlässt. Hinter ihm liegen 70 Minuten voller Eindrücke für Auge und Ohr. Da ist der Schauspieler Matthias Horn, der ein Mittvierziger spielt, der auf seine Jugend zurückblickt. Bis 1983 lebte er mit seinem Bruder bei fremden Eltern, bei denen die leibliche Mutter ihre Kinder zunächst vorübergehend unterbrachte und dann nicht mehr abholte. Weil die Nachbarn beim Jugendamt Meldung machten, kamen die beiden Jungen für kurze Zeit in ein von Nonnen geleitetes Kinderheim bis sie dann zu Pflegeeltern zurückkehrten. Horn brachte das ganze öde Heimleben mit wenigen Worten auf den Punkt. „Essen, Beten, Nässen, Schlafen“.

Diese karge aber treffende Sprache, die sich durch das ganze Stück zieht, macht den besonderen Reiz der Aufführung auf. Hinzu kommen die bemerkenswerten Lichteffekte für die Stefan Wolf verantwortlich ist. So steht Horn in den ersten 15 Minuten in einen Lichtstreifen, nur seine Stirn ist erleuchtet. Später stützt er sich an erleuchtetes Feld an der Wand, klettert daran hoch, steht links oder rechts daneben. Und er erzählt, begleitet von Videos und Fotos, die ganze Geschichte einer Kindheit und Jugend in Deutschland von Mitte der 60er bis Anfang der 80er Jahre.

Es ist die Welt eines ehemaligen Fremdenlegionärs aus Belgien, der eine deutsche Frau geheiratet hat, deren Lebensmittelpunkt zwei deutsche Schäferhunde waren. Die Pflegekinder wurden darum gruppiert. Horn erzählt von den Strafen, die es gab, wenn ein Kind weinte. Das konnte der ehemalige Legionär, der Katzenjunge an der Hauswand totschlug, überhaupt nicht leiden. Horn berichtet, wie er mit 10 Jahren mit dem Vater Zeitungen austragen musste, dafür 2 DM die Woche bekommen sollte. Weil aber bei jeder Reklamation 50 Pfennig abgezogen wurden, hat er heute noch Schulden. Er erzählt die kleinen alltäglichen Grausamkeiten, die den Kindern das Leben zur Hölle machten, aber gesellschaftlich nicht machten. Er erzählt von den Schlägen mit dem Gürtel oder darüber, wie der Legionär, ein gelernter Metzger, seinen Sohn eine für ihn besonders ungenießbare Sülze gewaltsam in den Mund stopfte. Er erzählt auch von ersten Ausbruchsversuchen in den Jugendjahren. Weil es kein Taschengeld gab, bedienten sie sich an dem Kleingeld das wohl reichlich in de Wohnung oder im Auto gelegen hat. Damit kaufe der Jugendliche eine Gitarre, die er vor Bruder und Vater versteckt hielt. Der hatte nämlich erklärt, der Junge brauche keine Gitarre, weil er gar nicht spielen könne. Die Gitarre musste auch mit, als er in den frühen 80ern, die Mutter war inzwischen an Krebs erkrankt,die Stätten seiner Kindheit verließ und in die weite Welt zog.

Erst nach einigen Jahren kamen die Erinnerungen zurück. Das Stück hat einen realen Fall zur Grundlage, auch die Fotos, die gegen Ende an die Wand geworfen werden, sind authentisch.

Schauspiel, Licht - Ton und Inszenierung sorgen für einen sehr intensiven Theaterabend. Dazu gelingt es, das Thema Vernachlässigung von Kindern ohne Moralisierung und Skandalgeschrei darzustellen. Nicht der Kanzelmissbrauch sondern die Erziehung als Zurichtung für die Zumutungen des Alltags, das ist das Thema. „Es war einmal ein Vater. Der hatte Töchter zwei, vongleichem Blut. Ging in die weite Welt. Und hätte Söhne zwei aus gleichem Hol geschnitzt. …..“Und die Welt wollte sie nicht und sie wollten die Welt nicht, in die sie fortgezogen waren. Und da spie die Welt sie wieder aus, dem Vater vor die Füße. Und da hocken sieund sind zersplittert und verkratzt, verzogen und sein eigen Holz nicht mehr erkennbar“. Wie so viele nach der Zurichtung, die Erziehung genannt wird. Das Stück ist noch heute und morgen in Berlin zu sehen. Weitere Aufführungsorte werden gesucht.

Peter Nowak

Aus dem Nest geworfen‘‘ von Annett Büchenbacher
in Zusammenarbeit mit Johann Camut
22. - 23. 01. 2011 jeweils um 20.00 Uhr

TISCH Theater im Schokohof, Ackerstrasse 169/170; 10115 Berlin Karten 030 - 441 0009 www.tisch2009.de
oder www.ensemble-padrone.de/

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Geschrieben von

Peter Nowak

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