Einstieg zum Ausstieg?

Kommentar Türkische Wahlen und europäischer Argwohn

Schon weit vor seinem Ergebnis hat dieses Votum einen sonderbaren Ritterschlag erhalten. Von einer "historischen Entscheidung" am 3. November ist allenthalben die Rede. Vielleicht deshalb, weil nach diesem Urnengang die jetzigen drei Regierungsparteien allesamt ihrer parlamentarischen Präsenz beraubt sein könnten. Sowohl die Rechtsnationalisten wie die Sozialdemokraten von Premier Ecevit als auch die konservative Vaterlandspartei drohen an der Zehn-Prozent-Hürde zu straucheln. Man hatte sie einst in die Verfassung diktiert, damit die kurdische Minderheit regelmäßig scheitert. Bisher ging dieses Kalkül auf, allerdings darf diesmal die kurdische Demokratische Volkspartei (DEHAP) durchaus auf Mandate hoffen. Gelingt es - mit "historischem" Firnis wird dadurch der Wahlakt nicht versehen. Dies mag schon eher für das Schicksal türkischer EU-Ambitionen gelten, die sich zunächst erledigt haben dürften, wenn die islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) allein oder im Verbund mit der Partei der Wiedergeburt (YDP) des Medienmoguls Cem Uzan triumphiert. Der Bumerang-Effekt der Zehn-Prozent-Klausel könnte darin bestehen, dass diesem Lager schon 30 Prozent der Stimmen reichen, um alle EU-Skeptiker in Brüssel und anderswo zu überzeugen, dass der ungeliebte Kandidat vom Bosporus auch weiter in einer Warteschleife ohne Zeitkorridor kreisen möge.

Allein mit der AKP wird sich ein euroskeptisches Potenzial artikulieren, das in den abendländischen Salons der EU als Kulturbruch geschmäht wird. Dem könnte am ehesten noch die vom langjährigen Außenminister Ismail Cem begründete Partei Neue Türkei (YTP) Paroli bieten. Kategorisch auf den Westen fixiert, reflektiert sie den Zeitgeist einer politischen Elite, die fest daran glaubt, mit ihrem im August hastig geschnürten Reformpaket sei ein Seiteneinstieg in die EU nur noch eine Zeitfrage. Ein türkischer Staat, der die Vollstreckung der Todesstrafe auf Kriegszeiten beschränken will, gilt aber als zivilisatorisch wenig geläutert, wenn viele Politiker zugleich keinen Zweifel lassen, ohne innere Überzeugung für diese und andere Maßnahmen gestimmt zu haben. "Europa wir kommen!" - die Schlagzeile des Massenblattes Millyet bringt eine Stimmung auf den Punkt, die einfach ignoriert, dass der EU noch nicht einmal der Termin für Beitrittsverhandlungen abgerungen werden konnte.

Auch für den nächsten Europäischen Rat in Kopenhagen zeichnet sich da kein Sinneswandel ab. Allein, es wäre ein Erfolg für Ankara, das Thema wenigstens auf der Brüsseler Agenda zu halten. Sollte aber eine islamische Partei wie die AKP politische Verantwortung übernehmen, schadet das unweigerlich der kulturellen Aura des Kandidaten. Interveniert die Armee gegen eine - möglicherweise - konfessionelle Regierung, gerät wiederum die demokratische Reputation ins Zwielicht. Ein Dilemma, das es tatsächlich verdient, "historisch" genannt zu werden.

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Geschrieben von

Peter Nowak

lesender arbeiter

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