Es ist das Kapital, Stupid!

Die Buchmacher Der Wissenschaftsjournalist und frühere Kraftfahrer Matthias Becker analysiert in seinem Buch die Geschichte der Automatisierung der letzten 250 Jahre
Ausgabe 30/2017
Wripiep, piiiiiieeep!
Wripiep, piiiiiieeep!

Foto: Stuart C. Wilson/Getty Images

Hochstapelei zieht sich durch die Geschichte der Forschung zur künstlichen Intelligenz und Robotik. Dies belegt der Wissenschaftsjournalist Matthias Becker in seinem Buch Automatisierung und Ausbeutung mit einem Exkurs in die Geschichte der Automatisierung der letzten 250 Jahre: Der erste Schachcomputer der Welt wurde im Jahr 1770 der Kaiserin Maria Theresia und ihrem Gefolge in Wien vorgeführt. Das Gerät bestand aus einer hölzernen Kommode und einer überlebensgroßen, in ein orientalisches Gewand gekleideten Puppe mit Turban; der Holzkasten diente der Puppe als Tisch. Mit einem ihrer mechanischen Arme bewegte sie die Schachfiguren vor sich. „Diese Mechanik war zum größten Teil Attrappe, bis auf den Teil, der zur Steuerung des beweglichen Arms der Puppe diente. Denn bedient wurde der erste Schachcomputer von einem menschlichen Spieler, der sich im Innern des Kastens verbarg“, schreibt Becker. Seine akribische Beschreibung jener Apparatur, ein Werk des Erfinders Wolfgang von Kempelen, führt zum Kern der Argumentation des Autors, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht: „Im Inneren der Maschinen stecken Menschen, bildlich gesprochen. Sie bedienen und reparieren die Automaten. Sie verbessern ihre Fehler und gleichen ihre Unzulänglichkeiten aus. Sie schreiben die Programme, mehr oder weniger gut.“

Becker, der früher als Kraftfahrer, Produktionshelfer, Call-Center-Agent und Altenpfleger gearbeitet hat und sein Geld heute als Übersetzer und Journalist verdient, zeigt: Menschliche Arbeitskraft ist in der Automatisierungstechnik bis heute unverzichtbar. Er beschreibt, wie ein kleiner weißer Roboter Jugendliche in Schulen beeindruckt, weil er auf Tastendruck Ja-Nein-Fragen beantworten und sogar Witze machen kann, wenn sich das junge Publikum zu langweilen beginnt – was die Einsetzbarkeit von Robotern für empathiebasiertes Lernen demonstrieren soll. Becker aber ergänzt: „Wer die Präsentation zur Gänze verfolgt, erfährt, dass im Nebenraum eine Wissenschaftlerin sitzt und anhand von Kameraaufnahmen entscheidet, wann ein Scherz angebracht ist.“

Dem Autor geht es keineswegs darum, die wissenschaftlichen Fortschritte zu bestreiten, welche die Arbeitswelt umkrempeln – und das nicht erst seit gestern. Doch er betont, dass die menschliche Arbeitskraft dadurch keineswegs überflüssig wird. Es sind nicht die Algorithmen, die bestimmen, in welche Richtung sich Arbeitswelt und Wertschöpfung entwickeln. Es ist das Kapital. Damit liefert Becker einen so nüchternen wie wichtigen Beitrag zur allenthalben geführten Debatte über die Folgen der Digitalisierung.

Dass Becker keinesfalls ein moderner Maschinenstürmer ist, wird durch das ganze Buch hindurch deutlich. Wobei es ihm dabei konkret geht, verdeutlicht das letzte Kapitel des Buches, welches programmatisch mit der Überschrift „Feierabend“ versehen ist. Eine „sentimentale Bindung an heute archaische Arbeitsformen“ sei ihm fremd, schreibt Becker, um dann Fragen zu stellen, die in dieser Form heute viel zu selten zu hören sind: Könnten die Fortschritte in Wissenschaft und Technik nicht zu einer Gesellschaft beitragen, die die Menschen von der Lohnarbeit befreit? Was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn Maschinen den Menschen die Lohnarbeit abnehmen und wenn wir gerade die ungesunden, nervtötenden Tätigkeiten den Robotern überlassen würden? Becker ist sich mit Karl Marx einig: im Kapitalismus ist diese Befreiung von der Plackerei unmöglich.

Info

Automatisierung und Ausbeutung. Was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus? Matthias Martin Becker Promedia 2017, 240 S., 19,90 €

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Geschrieben von

Peter Nowak

lesender arbeiter

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