Forschung und Verfassungsschutz

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Der Niedersächsische Kultusminister präsentierte vor einigen Wochen eine Grundrechte-Fibel für Schüler der 4. Klasse. Diese wurde vom Verfassungsschutz konzipiert. Das ist kein Einzelfall.Denn schon längst sind die Zeiten vorbei, wo Verfassungsschutzmitarbeiter mit alten Hüten und langen Mänteln herumgelaufen sind. Heute hat dieses Bildgenau so wenig Realitätsgehalt, wie das Klischee vom Kapitalisten mit der typischen Zigarre im Mund.

Zumindest in Deutschland lehren Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Hochschulen, beteiligen sich auch in linken Zeitschriften und Zeitungen wie den Freitag an Debatten und konzipieren Unterrichtsmaterialen für die politische Bildung an Schulen. Das haben Hartmut Rübner und Markus Mohr detailliert in ihrem im Unrast-Verlag erschienenen Buch „Gegnerbestimmung – Sozialwissenschaft im Dienst der Inneren Sicherheit“ nachgewiesen.

Der Bremer Politikwissenschaftler Rübner beschreibt die Geschichte der Modernisierung des Verfassungsschutzes, die schon Ende der 60er Jahre begonnen hat. In einem Handbuchdes Verfassungsschutzes von 1968 war erstmals von der „Bildungs- und Aufklärungsarbeit“ die Rede, die der Dienst zukünftig übernehmen soll. Der erste Einsatzort war die Justus-Liebig-Universität in Gießen, wo in den 70er Jahren erstmals ein VS-Mitarbeiter einen Lehrauftrag erhalten hatte. Damals setzten sich die Studierenden dagegen mit einem Vorlesungsboykott zu Wehr und angesichts leerer Hörsäle brach der diplomierte VS-Mitarbeiter das Experiment wieder ab.

Heute führt die in Bremen lehrende Privatdozentin Tanja Puschnerat ganz offen ihren Hauptberuf auf: „Seit 2002 Referatsleiterin im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Bereich islamischer Terrorismus und Islamismus. Seit Oktober Pressesprecher des BfV.“Kritische Anfragen zur Vereinbarkeit von Forschung und Verfassungsschutz wurden von der Pressestelle der Universität zurückgewiesen.


Comic gegen Extremismus

Auch Thomas Grumke ist an der Schnittstelle zwischen Forschung und VS sehr aktiv. Der auf einem Wikipedia beitragals „deutscher Verfassungsschützer“ firmierende Grumke ist der Betreuer der Comic-Serie Andi. Damit wendet sich der VS-Nordrhein-Westfalen gezielt an Jugendliche, die so vor Rechten, Linken und Islamisten immunisiert werden soll. In dem Buch sind vieleweitere Beispiele an der Schnittstelle zwischen Forschung und VS dokumentiert.

Der Sozialwissenschaftler Markus Mohr beschreibt in seinen Beitrag, wie leicht es einen linken Wissenschaftler passieren kann, gegen seinen Willen mit einem VS-Wissenschaftler zu publizieren. Mohr blieb dieses Schicksal nur deshalb erspart, weil er seinen Text für einen von Dieter Rucht und Roland Roth herausgegebenenSammelband zu den sozialen Bewegungen in Deutschland zurückgezogen hat.Er fand seinen Beitrag nicht mehr aktuell genug, weil sich die Produktionsphase des Textes mehr als sieben Jahre hingezogen hat. Als das Buch dann doch noch erschienen ist, war dort auch ein Beitrag von Thomas Grumke platziert. Über manche Formulierung, vor allem in dem von Mohrmit viel persönlicher Betroffenheit geschriebene Beitrag, kann man sich trefflich streiten. Doch insgesamt hat das Buch an Aktualität noch gewonnen, seit zivilgesellschaftliche Gruppen mit der Extremismusklausel von Bundes- und Landesregierungen verstärkt auf Linie gebracht werden sollen.


Peter Nowak

Markus Mohr/Hartmut Rübner: Gegnerbestimmung. Sozialwissenschaft im Dienst der »inneren Sicherheit«. Unrast, 288 S., Münster 2010, 16,80

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Geschrieben von

Peter Nowak

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