Der junge Ronald Schernikau, knapp 20 Jahre, hat gerade sein erstes bekanntes Buch „Kleinstadtnovelle“ herausgebracht und wird 1980 zum Interview ins Fernsehen eingeladen. Das war vor über 40 Jahren für den Literaten der Durchbruch. Im Anschluss sehen wir einen jungen Mann, der im Jahr 2018 Fotos auswählt, mit denen er Wand seines Zimmers dekoriert. So beginnt der Film „FREIZEIT oder: das gegenteil von nichtstun“ der Regisseurin Caroline Pitzen. Knapp 70 Minuten wird eine Gruppe politisch aktiver junger Menschen gezeigt, geschlechtergerecht, zwei männlich und drei weiblich gelesene Personen. Sie stehen alle kurz vor dem Abitur und am Duktus ihrer Gespräche ist erkennenbar, dass sie einen bürgerlich-mittelständischen Hintergrund haben. Das ist eine Feststellung und keine Kritik. Wir sehen die jungen Menschen beim Malen eines antifaschistischen Transparents, das in der nächsten Szene schon am Lautsprecherwagen einer linken Demonstration zu sehen ist. Dann sitzen die zwei jungen Männer im Grünen und diskutierten einen polizeikritischen Leitartikel von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (SZ). Auffällig ist, wie sich die beiden jungen Radikalen über die kritischen Worte in der SZ freuen. Sie überlegen, wie toll es doch wäre, wenn der Text als Leitartikel abgedruckt würde. Doch einer der jungen Männer macht den Einwand, dann könnte er wohl nicht so radikal formuliert werden. Es fällt auf, wie reflektiert die jungen Leute sind. Dass wird in den zahlreichen Gesprächen, die die Gruppenmitglieder untereinander führen, sehr deutlich. In einer Szene geht es um die Vorbereitung von Aktionen gegen Gentrifizierung, in einer anderen diskutieren die zwei Frauen über ihre alltäglichen sexistischen Erfahrungen.
Selbst beim Kiffen politisch korrekt
Wir sehen die Jugendlichen auch in der Freizeit immer total reflektiert. Selbst beim Kiffen hört man kein böses Wort bei ihnen. Das wäre vor Jahrzehnten in der Punkbewegung noch undenkbar gewesen. Da kommt einen beim Zuschauen sofort die Überlegung: Es ist ein Film, der eben das Leben der jungen Leute zum Thema hat, und da achten sie wahrscheinlich total auf die Außenwirkung. Oder handelt es sich tatsächlich um eine Gruppe junger Menschen, für die ein solcher reflektierter Umgang untereinander ganz selbstverständlich ist? Nur einmal bekommen wir mit, dass das Leben der jungen Menschen nicht so easy ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Da unterhalten sich zwei über die Leistungsanforderungen, denen sie ausgesetzt sind „Ich pass mich ja auch die ganze Zeit in der Schule an, um nicht an irgendwelche Ecken zu stoßen, um den Abschluss zu haben“, sagt der junge Mann emotional sichtlich bewegt. Gleich darauf wechselt das Gespräch wieder in die allgemeinere Ebene.
Wer verändert die Welt?
Besonders beeindruckend fand ich, wie sih die jungen Leute im Film mit linker Kultur befassen. So liest einer von ihnen aus einen Artikel über Klassen und Klassenkampf vor, den Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky 1930 in der Weltbühne geschrieben. Auch hier sieht man, wie es die junge Leute bewegt und sie sich fragen, was der Text mit ihnen zu tun hat. In der letzten Einstellung schauen sich die Jugendlichen die berühmte letzte Szene des Films „Kuhle Wampe“ von Bert Brecht an. Dort sieht man eine Gruppe junger Kommunist*innen in einem Zugabteil darüber sinnieren, wer die Welt verändern wird. Die Szene endet mit dem Satz: „Die werden die Welt verändern, denen sie nicht gefällt.“ Auch hier sieht man wieder, wie die Dialoge die jungen Leute bewegt. Für sie sind es keine historischen Fragen. Ihnen gefällt die Welt nicht, das wird im Film klar. Doch haben sie ein Interesse, die Welt zu verändern, das über die moralische Empörung hinausgeht? Wenn einer der Protagonisten sagt, dass alle Menschen es verdient hat, in einer Wohnung zu leben, in der sie genug Platz und Sicherheit haben“, dann geht es nicht mehr nur um die Frage, wem die Welt nicht gefällt, sondern wer ein Interesse daran hat, sie zu verändern. Dass die Antworten da oft weit auseinandergehen ist bekannt und hat vor mehr als 50 Jahren im Zuge der 68er Bewegung viele junge Linke von der moralischen Empörung zur Beschäftigung mit dem Kommunismus gebracht. Ihnen hat der Schriftsteller Uwe Timm in seinem Roman Rot im wahrsten Sinne des Wortes eine literarische Totenrede gewidmet. Eine zentrale Figur des Romans heißt Aschenbrenner, der in der 68er Bewegung zum Kommunisten wurde. An einer Stelle des Romans wird aus Notizen zitiert, die sich der junge Aschenbrenner als linker Aktivist zu Fragen des Wohnraums gemacht hat.
„Im Zentrum von München, am Englischen Garten stehen Bankgebäude, Versicherungen, Bayerische Hypotheken Bank, Allianz, Münchner Rückversicherung, seht Euch die Gebäude an, am Abend, nachts, an Feiertagen, leer und tot stehen sie da. Statt dass dort Familien mit Kindern wohnen, wohnt dort das Kapital. Und die Leute finden es auch noch vernünftig, weil es ja die teuersten Grundstücke sind. Es ist das Unvernünftigste. Das muss umgewertet werden.“
Uwe Timm, Rot, Kiepenheuer & Witsch
Aschenbrenner stellte sich also in der Nachfolge von 1968 die gleichen Fragen, die sich die jungen Leute 2018 im Film gestellt haben. Und er bemerkt, den Unterschied zwischen denen, denen die Welt nicht gefällt und denen, die ein Interesse daran haben, sie zu verändern.Man kann nur wünschen, dass diese grundsympathischen jungen Linken aus dem Film, die ebenso wie die Figuren im Roman von Uwe Timm die Ecken, Kanten und Wände des bürgerlichen Staates zu spüren bekommen werden, das Ziel, die Welt zu verändern, nicht nur aus moralischen Gründen verfolgen, sondern auch weil die große Mehrheit ihrer Bewohner*innen daran ein Interesse haben müsste.
Gern würde man einen Film sehen, der die gleichen Personen nach 5, nach 10, 15 oder 20 Jahren noch einmal befragt. was aus den Utopien und Hoffnugnen ihrer Jugend geworden ist. Da gibt es mit der Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow" ein gutes Vorbild.
Peter Nowak
FREIZEIT oder: das gegenteil von nichtstun ist im Rahmen der Meisterschüler*innenklasse von Thomas Aslan an der UDK entstanden.
Er hatte im Rahmen der Woche der Kritik Premiere. Weitere Infos und vielleicht auch Screening-Termine finden sich hier:
https://www.udk-berlin.de/startseite/news/freizeit-oder-das-gegenteil-von-nichtstun/
Ein Film von Caroline Pitzen
von und mit Jasper Penz, Juno Groth, Lilly Marie Dressel, Maxim
Hartig, Mila Wischnewski
Bildgestaltung - Markus Koob
Ton - Philipp Fröhlich, SHEN Sum-Sum
Tongestaltung - Christian Obermaier, Jochen Jezussek
Produktion - OKNO
Am 8. Juni um 21.45 Uhr wird der Film im Rahmen der Woche der Kritik (http://wochederkritik.de/de_DE/for-future-reference/) im Freiluftkino Hasenheide gezeigt. Ticket können hier (https://www.freiluftkino-hasenheide.de/filme/woche-der-kritik-21899/) bestellt werden.
Kommentare 2
Der Text wirft leider mehr Fragen auf als er beantwortet:
1. Was hat der in die DDR übergesiedelte Westlinke Ronald Schernikau mit dem Inhalt des Films zu tun? Kommt er im Film überhaupt vor? Falls ja: Warum? Aus dem Text ist der Zusammenhang jedenfalls nicht ersichtlich.
2. »zwei männlich und drei weiblich gelesene Personen« – später dann: Männer (zwei) und Frauen (drei). Was denn nun? Sind sie Männer/Frauen – oder keine?
3. Sind Heribert Prantl respektive die Süddeutsche Zeitung linksradikal? Nicht klar wird zudem auch, ob Prantls Artikel nun Leitartikel ist (wohl eher nicht) oder vielleicht doch. Nicht nachvollziehbar ist darüber hinaus, wieso SZ-Topmann Prantl einen von ihm selbst geschriebenen Beitrag entschärfen müßte für den Fall, dass er als SZ-Leitartikel erschiene.
4. »Wir sehen die Jugendlichen auch in der Freizeit immer total reflektiert. Selbst beim Kiffen hört man kein böses Wort bei ihnen. Das wäre vor Jahrzehnten in der Punkbewegung noch undenkbar gewesen.«
Ausnahmsweise mal keine Unklarheit – lediglich ein Plädoyer für ein fast zwangsneurotisches Level an Selbstkontrolle und Affektunterdrückung sowie ein Jesus-artiges Ausmaß an Friedfertigkeit. Dass das zu den Jugend- und Alternativbewegungen der 60er bis 90er diametral konträr steht, ist offensichtlich gewollt. Frage so: Ist »linksradikal« der neue Faschismus?Oder lediglich ein umdefiniertes Label bürgerlich-mittelständischer Hipster, die die Arbeiter(innen)klasse endlich mal tüchtig rannehmen wollen? Und noch einer: Meines Erachtens beißt sich das im »Kiffen«-Abschnitt beschriebene Anforderungsprofil erheblich mit den im nächsten Abschnitt dargelegten Gedanken bezüglich Ungerechtigkeit und Rebellion.
Die Einlassungen im Abschnitt »Wer verändert die Welt?« will ich in meinen Fragenkatalog nicht aufnehmen. Allerdings frage ich mich schon, was Tucholsky und Timm mit dem Filminhalt zu tun haben – beziehungsweise, ob der Film nicht lediglich Aufhänger für den Beitragsautoren ist, ein paar eigene Gedanken zum Thema Links-Sein zu verfassen.
Gefühl bei alldem: keine Überraschung. Allerdings die feste Gewissheit: Die im Beitrag zusammengestellten Splits gehen – auch wenn sie sich »linksradikal« nennen – allenfalls in die Richtung neoliberal.
Ich verstehe die Fragen nicht. Es ist ein künstlersicher Film, in dem junge Menschen sich mit Texten von Schernikau, Tucholsky, Marx ... und den Film von Brecht befassen. Der Titel ist ein Zitat aus der Kleinstadtnovelle von Schernikau. Ich finde gerade diese Auseinanderetzung mit linker Kunst und wie sie im Film gezeigt wird, sehr interessant und gelungen.
Zu 2.) Ich habe die jungen Menschen nicht gefragt, ob sie sich als Männer/Frauen oder divers begreifen. Daher habe ich es so formuliert, wie es dort steht.
3.) Nirgends steht das Prantl linksradikal ist, es wäre ja auch uninteressant, wenn sich die beiden jungen Linken über einen linksradikalen Text aus der Interim gefreut hätten. Die Spannung besteht ja gerade darin, dass sie sich über einen linksliberalen Text unterhalten. Ich halte zudem die Position des jungen Linken im Film für plausibel, dass ein solcher Text nicht auf der Titelseite der SZ erscheien würde. Prantl ist Ressortleiter von Politik.
4.) Die Jugendlichen entsprechen nicht den Klischees von Jesus, etc. Ich denke, dass sie vielleicht aus einem Milieu kommen, wo die Menschen so miteinander umgehen und sicher, wollten sie sich auch so darstellen.
Ich habe ja beschrieben, was Tucholsky mit dem Film zu tun hat: ein Auschnitt aus einen Text von ihm aus der Weltbühne wird gelesen und andiskutiert.
Die Überlegungen von Uwe Timm habe ich in den Text reingebracht.