Zwischen Pater Leppich und Friedrich Nietzsche

KungerKiezTheater Es ist kürzlich in das Park Theater Treptow gezogen. Im neuen Stück "Mensch Ludwig" verliert ein Christenmensch seinen Glauben an Gott, die Welt und die deutsche Justiz

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Die Bühne besteht aus einem zunächst dunklen kleinen Raum, in dem Fotos von Männern und Frauen im Talar der Richter*innen zu sehen sind. Auf einen Tisch steht ein Stuhl, Mobilar wie es in Schulklassen zu finden sind. Doch dafür ist der Raum eindeutig zu klein und dort hängen ja in der Regel auch keine Porträts von Richter*innen. Und was soll der rote Besenstil, der in einer Ecke steht? Die Verwirrung wird nicht kleiner, als das Licht angeht und ein älterer Mann den Raum betritt. Er stellt den Stuhl auf den Boden und packt aus einer Aktentasche einige Utensilien, eine Teekanne, eine Akte und einen knallbunten Locher, dessen Funktion sich erst im Laufe der 105 minütigen Vorstellung des KungerKiezTheater an dem heißen Samstagabend enthüllen wird. Zumindest wird bald klar, dass der kleine Raum sich in einen Amtsgericht befindet, wo sich Prozessbeteiligte auf die Verhandlung vorbereiten können. Doch die dafür notwendige Ruhe wird immer wieder durch schwer verständliche Ansagen unterbrochen, die aus einen Lautsprecher kommen, der an einer Wand angebracht ist. Wenn man genau zuhört, werden dort die Beteiligten der unterschiedlichen Prozesse an ihre Termine erinnert. Für Ludwig, so heißt der Senior, der sich auf seinen Prozess vorbereiten will, wird dieser Lautsprecher immer mehr zur Qual. Schließlich kämpft er um Gerechtigkeit, wie er gleich erklärt. Er ist wegen des Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole verurteilt. Rr habe in einem Gespräch mit einem Polizisten „Heil Hitler“ gesagt. Dass hat Ludwig, den bekennenden Antifaschisten und Kriegsgegner besonders getroffen. Diese Qual wird von dem Schauspieler Holger Franke in 14 Szenen des Stücks „Mensch Ludwig oder wie ich die Verfassung verlor“ kongenial vorgeführt.



Stich in den Bauch

Dabei wird Ludwig den kleinen Raum nicht verlassen, doch seine Verfassung verschlechtert sich in den 105 Minuten rabide, so dass man sich am Ende um sein Überleben sorgen machen. Dabei tritt das skurrile Urteile und die Vorgeschichte, die auf einer wahren Geschichte beruht, die im Programmheft nachgelesen werden kann, zunehmend in den Hintergrund. Seinen Berufungsprozess verpasst Ludwig, obwohl er gleich mehrmals per Lautsprecher aufgerufen wird. Auch die Handyanrufe seines Anwalts ignoriert er. Denn der befindet sich längt in einer Lebenskrise, die Holger Franke auch in Gestik und Ausdruck hervorragend darstellt.

Wir sehen immer mehr einen Christenmenschen leiden und verzweifeln an der Welt und an seinen eigenen Glauben. Anfangs ist er noch kampfbereit und will in der Berufsverhandlung das Urteil, das für ihn eine Schmach ist, aus der Welt schaffen. Doch mehr und mehr gerät er in Selbstzweifel über sich und die Welt. Mal ruft er Jesus an, der Anfang noch am Kreuz über der Tür hängt, aber bald hängt er ihn ab und hält ihn in der Hand. Franke versteht es, dieses Leiden in schwäbischer Mundart auf der Bühne zu zelebrieren. Seine Invektiven gegen die „Wüstgläubigen“, zum Glück wird für die Nichtschwaben im Publikum erläutert, dass damit alle gemeint sind, die nicht katholisch sind, hat gelegentlich den Eindruck, als wäre da Pater Leppich wiederauferstanden, der in den späten 1960er Jahre als Maschinengewehr Gottes durch die Lande zog und vor allem durch den 1968er Aufbruch verunsicherte Gläubige massenhaft anzog. Ein Höhepunkt auf der Bühne ist das Umdrehen der 14 Fotos in dem Raum. Beim genaueren Hingucken zeigte sich schnell, dass die Abgebildeten keine Richter*innen sind, viele sind zu jung. Es sind weiße Menschen allen Alters und Geschlechts, die dort im Richtertalar posieren. Auf der Rückseite finden sich die römische Nummerierung und es werden die 14 Stationen am Leidensweg Christi angesprochen. So werden dann vom kleinen Prozess die ganz großen philosophischen Probleme eines politisch aktiven christlichen Pazifisten angesprochen. Doch der katholische Furor wird durchbrochen, wenn Ludwig dann dem "Lattengustl" zürnt, der sein Leiden nicht auf andere übertragen will. Fast schon komisch wirkt es, wenn Ludwig dann statt mit der Christus-Imitation mit den bunten Locher redet. Von einen Wahnsinn mit Gott zum Wahnsinn ohne Gott? Schnell denkt man Friedrich Nietzsche, der für Gott für tot erklärt hat und dann einen Esel um den Hals fiel.

Immer wieder werden Szenen aus dem Leben von Ludwig erwählt. Da wird der Brief eines Jugendfreundes verlesen, der ihn bittet, ihn aus der Mailingliste zu nehmen Er fühlt sich durch die Anzahl und die umfangreichen Anhänge einfach überfordert. Dann erfahren wir noch von einer Verletzung, die ihn eine enge Freundin mit einem Messer an Bauch beigebracht hat. Zum Arzt will er nicht gehen, weil er unangenehme Fragen nach der Ursache seiner Verletzung vermeiden will. Doch die scheint schwer zu sein, wenn man der Verschlechterung seines mentalen Zustands während der Aufführung verfolgt. Oder sind dafür die vielen irritierenden Zeitverhältnisse verantwortlich, die Ludwig mehrmals erwähnt?

Einkaufsmalls zu Kulturtempeln

Sofort denkt man an Corona-Lockdown und Ukraine-Krieg und der Unfähigkeit sich dabei mit unterschiedlichen Positionen zivilisiert auseinandersetzen zu können. Für das Stück war der Lockdown aber positiv, wie Schauspieler Franke und der Leiter des KungerKiezTheaters Michael Reinhold Schmitz betonen. Es blieb Zeit, es gründlich durchzuarbeiten. Eine weitere Folge des Lockdowns können die Besucher*innen beobachten, wenn sie das Theater verlassen. Es befindet sich in der ersten Etage des Park Center Treptow, wo erst kürzlich der große Realmarkt geschlossen hat, was sicherlich auch eine Folge der durch Corona beförderten Durchsetzung der Digitalwirtschaft ist. So ist nach Theaterende der Hauptausgang des Park-Center geschlossen, so dass nur noch das Treppenhaus als Exit bleibt. Wäre es nicht auch eine positive Folge von Corona, wenn aus Einkaufsmalls Kulturtempel würden? Mit dieser Frage können sich die Besucher*innen von Mensch Ludwig beschäftigten. Es ist im KungerKiezTheater am 24.06, 26.06, 1.07, 2.7,. 8.7. und 9.7. jeweils ab 19.30 Uhr zu sehen. Ganz am Schluss erzählt Ludwig übrigens noch mal den vollständigen Flüsterwitz aus dem antifaschistischen Widerstand, der mit „Heil Hitler“ beginnt, und deren Pointe weder Polizist noch Gericht interessierte.



Peter Nowak

Weitere Informationen zum Stück Mensch Ludwig oder wie ich die Verfassung verlor:

https://theater.kungerkiez.de/event/mensch-ludwig/



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Geschrieben von

Peter Nowak

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