Her mit dem ganzen Leben

Gesellschaft Eine Kritik am urbanen Liberalismus ist ebenso notwendig wie die Zurückweisung der Schimäre von der Verteidigung eines national begrenzten Sozialstaats

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Wenn man gemeinsam drin steckt, kann man auch gemeinsam gehen
Wenn man gemeinsam drin steckt, kann man auch gemeinsam gehen

Foto: takomabibelot / Flickr (CC 2.0)

Wird die Rechte stark, weil die Linke die Arbeiter verachtet?

Nun hat mit der AfD auch in Deutschland eine rechtspopulistische, in Teilen auch faschistische Partei im Parlament Einzug gehalten. Und nun wird auch hier verstärkt eine Diskussion geführt, die in vielen anderen europäischen Ländern schon länger diskutiert wird: Warum gelingt es den Rechten, in Teilen der Arbeiter_innenklasse Wähler_innen zu gewinnen? Dabei handelt es sich meistens um Regionen, in denen fordistische Industriezweige und damit auch eine ganze Arbeiterkultur verschwunden sind. So hat der Front National in Frankreich die bis in die 1970er Jahre in diesen Regionen dominierende Kommunistische Partei beerbt und wurde zur Partei des in seinem Stolz verletzten, zu „Proleten“ herabgesunkenen Proletariats. Mit „Rückkehr nach Reims“ hat der Soziologe Didier Eribon ein Buch geschrieben, das in mehrfacher Hinsicht ein Tabubruch war. Er stellt sich nicht nur die Frage, welchen Anteil die politische Linke daran hat, dass das Band zur Arbeiter_innenklasse scheinbar durchtrennt worden ist. Er begnügt sich nicht damit, nur festzustellen, dass Teile der alten Arbeiter_innenklasse zur rechten Wählerbasis wurden. Er fragt auch nach den Gründen in der Politik der politischen Linken. Eribon spart den subjektiven Faktor nicht aus: Er beschreibt, wie er selbst als Kind einer Arbeiterfamilie das Milieu zunächst verlassen hat, um im intellektuellen Milieu von Paris Fuß zu fassen, bevor er nun als linker Akademiker in seine Heimatstadt zurückkehrt.

Info

Das ist ein Abdruck aus der Ausgabe 133-134 des telegraph, die kürzlich erschienen ist. Hier das Inhaltsverzeichnis: http://telegraph.cc/telegraph-133-134/

Hier kann sie bestellt werden: http://telegraph.cc/bestellen/

Rückkehr nach Kaiserslautern

Im letzten Jahr hat der Feuilletonredakteur der Tageszeitung „Neues Deutschland“ Christian Baron (www.christian-baron.com) auf Eribons Spuren seine Rückkehr nach Kaiserslautern vollzogen. Gleich das erste Kapitel seines im Verlag „Das Neue Berlin“ veröffentlichten Buches mit dem Titel „Proleten, Pöbel, Parasiten“ beginnt mit einer Szene, die eigentlich schon eine Antwort auf den Satz gibt, der im Untertitel des Buches einfach als Behauptung aufgestellt ist: „Warum die Linken die Arbeiter verachten“. Das erste Kapitel beschreibt, wie der achtjährige, asthmakranke Christian von seinem betrunkenen Vater geschlagen und gegen die Wand geschleudert wird. Die Szene hat sich Christian Baron eingeprägt, weil er erstmals Gegenwehr verspürte und sich mit einem Holzscheit vor seinem Vater aufbaute. Das scheint den Mann mit den Kräften eines Möbelpackers zumindest so beeindruckt zu haben, dass er von seinem Sohn für dieses Mal abließ. Baron stellte klar, dass es sich bei der Gewalttätigkeit aber um keine Ausnahme handelte. Er sieht darin auch eine Ursache für den frühen Krebstod seiner Mutter. Eigentlich wäre das Grund genug, als Linker diese Form der Gewalt zu hassen. Damit wäre er auch ganz nah bei Eribon, der als Schwuler den Kontakt zu seinem Vater wegen dessen Homophobie abgebrochen hat. Die Flucht aus Reims bzw. aus Kaiserslautern war also zunächst ein Akt der individuellen Befreiung, der so zur Voraussetzung für die Rückkehr in die jeweiligen Städte und Milieus wurde. Doch bei Baron wird die Szene des gewalttätigen Vaters überblendet durch das Beschreiben einer Prüfungssituation an der Universität: Es saß vor dem akademischen Gremium, das darüber entscheiden sollte, ob er nun den akademischen Titel tragen darf oder nicht. Baron gehörte zu den Glücklichen, die diesen akademischen Weg mit Erfolg absolvierten. Implizit wird in dem Buch deutlich, welche Mühen und Beschwernisse er dafür auf sich genommen hat und wie besonders hoch die Hürden für ein Arbeiterkind aus einem proletarischen Stadtteil von Kaiserslautern waren, für das eigentlich ein akademischer Bildungsweg nicht vorgesehen war. Er bedankt sich ausdrücklich bei den Lehrerinnen, die ihn auf diesem Weg unterstützt haben. Es sind sehr starke Kapitel, in denen Baron beschreibt, was es für ein Arbeiterkind, dass bisher immer im Dialekt gesprochen hat, bedeutet, in eine Atmosphäre gestoßen zu werden, in denen Dialekt als Kennzeichen von Unbildung gilt.

Der Kampf um die Bildung

Ebenso beeindruckend ist der Bericht über den ersten Theaterbesuch seiner Tante, bei der Baron als Jugendlicher aufgewachsen ist und die wohl auch einen wesentlichen Anteil daran hatte, dass der junge Christian das Abitur machen und dann studieren konnte. Dass diese Tante die Zeitungen für den einzigen Sohn besorgte, der die akademische Bildung anstrebte, dass sie später auch einen politischen Bewusstseinsprozess durchmachte und heute Migranten_innen unterstützt und die Linkspartei wählt, ist tatsächlich ein Beispiel dafür, wie falsch es ist, diese Arbeiter_innen rechts liegen zu lassen. In diesen Beschreibungen blitzen Momente auf, die an die Marxistischen Arbeiterschulen der Weimarer Zeit erinnerten, als sich politisch interessierte Arbeiter_innen mit Philosophie und der Relativitätstheorie befassten oder in den 1980er Jahren Lesekreise zum Studium des Romans „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss besuchten. Auch hierbei ging es um Bildung als Mittel zum Erkennen und Verändern der Welt.

Belege für die Verachtung gegenüber den Arbeitern fehlen

Doch leider kann man ein Buch, das dieses Thema in den Mittelpunkt stellt, wohl kaum einem größeren Publikum verkaufen. Daher müssen im Untertitel „die Linken die Arbeiter verachten“ und diese Behauptung soll im Buch durch subjektive Erlebnisse auf dem Bildungsweg von Christian Baron untermauert werden. Das Problem besteht jedoch darin, dass eine Verachtung der Linken gegenüber den Arbeitern daraus keineswegs abgeleitet werden kann. Wenn Baron beispielsweise beschreibt, wie er sich bei einer befreundeten ökologisch angehauchten Wohngemeinschaft seine Pizza aufwärmt und eine vegane Stipendiatin der grünennahen Heinrich Böll Stiftung damit ärgert, dass er noch fälschlich behauptet, er habe sein Essen vorher mit Billigwurst belegt, dann offenbart er doch eher eine gewisse Ignoranz gegenüber der Veganerin. Es wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass sie ihm verbietet, Fleisch in ihrer Gegenwart, in ihrer Wohnung, in ihrem Ofen zuzubereiten. Doch sie belässt es bei vorwurfsvollen Blicken und Äußerungen. Dass Baron die Veganerin dann über mehrere Abschnitte als Biodiktatorin mit stalinistischen Anwandlungen klassifiziert, ist aus dem Beschriebenen nun wirklich nicht begründet. Solche schwachen Kapitel, die eher in Ressentiments als in Erkenntnisgewinn enden, gibt es in dem Buch leider einige. Baron reißt im Schnelldurchgang so ziemlich jedes Thema an, dass man den nervigen Mittelstandsökos schon immer mal unter die Nase reiben wollte. Backpacker werden ebenso abgefertigt, wie Genderstudies-Kommilitonen und andere Akademikerinnen und Akademiker, die nicht so schreiben, dass es von denen aus Kaiserslautern auch gleich verstanden wird. Dabei aber übersieht Baron, dass die theoretische Arbeit durchaus ein eigenes Feld ist und nicht immer und von allen gleich verstanden werden kann und muss. Sonst hätte auch Karl Marx sein Buch „Das Kapital“ kaum schreiben können. Es ist eine Sache, sich mit soziologischen und philosophischen Studien auch in einer elaborierten Sprache auseinanderzusetzen. Es wäre die Aufgabe linker Akademiker_innen, wie Baron, diese Erkenntnisse dann in eine Sprache zu übersetzen, die auch in Kaiserslautern oder in Reims verstanden wird. Das genau ist in den 1920er Jahren in den Schulen der Marxistischen Arbeiterbildung geschehen, wie in den 1980er Jahren in den Peter-Weiss-Lesekreisen. So könnten linke Akademiker_innen aus der Arbeiterklasse heute Texte aktueller wissenschaftlicher Forschung zu Klasse und Geschlecht, zu Antisemitismus und Nationalismus in eine Sprache übersetzen, die auch jenseits des akademischen Milieus verstanden wird.

Sollen die Arbeiter so bleiben wie sie sind?

Doch da stellt sich vorher die Frage, die auch Baron in seinem Buch nicht abschließend beantwortet: Soll mit solchen Interventionen ein Beitrag dazu geleistet werden, dass sich die Arbeiter_innen auch davon emanzipieren, dass sie den verachtenswerten Proleten abgeben, den der achtjährige Christian Baron ebenso kennengelernt hat, wie der junge Schwule Didier Eribon. Es gibt Stellen in Barons Buch, wo er diesen nötigen Emanzipationsprozess bejaht. Andere Abschnitte lesen sich so, als wenn der nach Kaiserslautern zurückgekehrte Baron die alte Hood vor allen Veränderungsbestrebungen bewahren wollte. Dann verteidigt er, völlig unnötigerweise, fahnenschwingende Fußballfans und polemisiert gegen Überlegungen von Adorno, die dieser in einem Radiobeitrag über den deutschen Fußballpatriotismus entwickelt hatte: „Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen“. Dass ein jüdischer Emigrant wie Adorno nicht mit in das „Wir sind wieder wer“-Geschreie einstimmen wollte, dass besonders durch Fußballsiege bereits in den 1950er Jahren erzeugt wurde, scheint Baron gar nicht zu bedenken. Er sieht hier eine Arbeiterkultur angegriffen und geht in Verteidigungshaltung. Doch wer wirklich etwas zur Emanzipation der Arbeiter_innen beitragen will, sollte versuchen, Adornos Erkenntnisse in anderen Worten den Menschen nahezubringen, die sich für einige Wochen im Fußballrausch ergehen und ihren Bossen und Chefs auf der Arbeit oder im Jobcenter keinen Widerstand entgegensetzen. Schließlich „sind alle Deutschland“ und sollen mit einer „Mannschaft in Schwarz-Rot-Gold“ mitfiebern. Nicht diejenigen sind arbeiter_innenfeindlich, die diese Zurichtung der Menschen kritisieren, sondern die, die ihnen dabei noch auf die Schulter klopfen und sagen: Das habt ihr gut gemacht!

Kein Herz für Arbeiter

Sehr anschaulich wird das vermeintlich arbeiter_innenfreundliche, tatsächlich jedoch paternalistische Verhalten dann, wenn der Verlag Barons Buch mit dem unsäglichen Motto „Ein Herz für Arbeiter“ bewirbt. Das erinnert nicht von ungefähr an die BILD-Kampagne „Ein Herz für Kinder“ und die von Rechten initiierte Kampagne „Ein Herz für Deutsche“. Alle, denen es wirklich um die Emanzipation der Menschen geht, sollten sich klar positionieren. Nein, wir haben kein „Herz für Arbeiter“. Wir können sie aber unterstützen, wenn sie beginnen, sich gegen ihre beschissene Situation zu wehren und nicht Schwächere im System dafür verantwortlich machen.

Es ist auffallend, dass bei Baron Arbeiter_innen oder Erwerbslose, die sich wehren, auch sehr selten vorkommen. Nur der Bewusstwerdungsprozess seiner Tante und einiger Freunde aus dem Umfeld werden kurz skizziert. Selbst wenn ganz am Rande in einem Satz ganz kurz auf die Erwerbslosenproteste im Vorfeld von Hartz IV eingegangen wird, nennt Baron als Quelle nur eine wissenschaftliche Arbeit. Dabei müsste er die Bücher kennen, in denen Protagonist_innen dieser Erwerbslosenkämpfe, die durchaus nach Einführung von Hartz IV weitergingen, sich zu Wort meldeten. Einige sind schließlich im Verlag „edition assemblage“ erschienen, in dem Baron ebenfalls publizierte.

Insgesamt bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl. Baron hat stellenweise sehr dicht den beschwerlichen Weg eines bildungsbewussten Menschen beschrieben, der aus der Arbeiter_innenklasse kam.

Muss die Linke hip und urban werden?

Baron hat mit seinem Buch eine gute Grundlage für eine Diskussion über die Frage geliefert, wie die Linke mit der real existierenden Arbeiter_innenklasse umgehen soll. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wer damit gemeint ist. Es gehören dazu auch die Menschen, die aus den unterschiedlichsten Ländern und Kontinenten kommen und in Deutschland oft in prekären Jobs arbeiten. Selbstverständlich gehören die Menschen dazu, die Baron hier porträtiert. Es ist falsch und zeugt von einem elitären Mittelstandsbewusstsein, wenn diese Segmente der Arbeiter_innenklasse vergessen oder sogar ganz offen als überholt und vorvorgestrig beschrieben werden. Ein negatives Beispiel gab da in einem Taz-Artikel die Kandidatin der LINKEN in Neukölln Judith Benda. „Linke wird hip und urban“ lautete die Überschrift. Da wird schon ein Ressentiment gegen die nicht hippen, nicht so urbanen Menschen bedient, die vielleicht nicht in Neukölln, sondern in Marzahn oder Hellersdorf wohnen. Genau dieses Ressentiment bedient Benda, die in der Taz mit diesem Statement zitiert wird: „Alter ist eigentlich keine politische Kategorie. Aber es gibt schon einen Unterschied zwischen einem 60-jährigen Typen und einer jungen Frau, die für eine andere politische Praxis steht“. Auffallend ist hier auch die Geschichtslosigkeit in einer Partei, die sich in die Tradition einer Bewegung stellt, in der die „roten Großeltern“ ihren Kindern und Enkeln über ihre Kämpfe an der Werkbank, im Arbeitsamt oder wo auch immer erzählten, um sie der jüngeren Generation weiterzugeben. Natürlich war sicher auch viel Mythos und Kitsch dabei. Aber sowohl in der kommunistischen als auch in der anarchosyndikalistischen Arbeiter_innenbewegung standen die roten oder rotschwarzen Großeltern auch für ein Bild von Gesellschaft und Geschichte. „Die Enkel fechten‘s besser aus“. Da war das Bild einer Gesellschaft, in der die Erfahrungen von Kämpfen, ihre Erfolge aber auch ihre Niederlagen weitergegeben werden. Da war auch die Hoffnung enthalten, dass es eben nicht nur einzelne Individuen, sondern eine kollektive Erfahrung gibt, die weitergegeben werden kann. Bendas Statement steht für eine Generation, die davon nichts mehr hören will. Für sie ist ein 60jähriger Arbeiter ein Typ, der möglichst schnell verschwinden, und der jungen, hippen, urbanen Frau Platz machen soll.

In Bendas Wortwahl wird schon die Verachtung deutlich, die die junge Politikerin gegen die Typen hat, wie sie die älteren Arbeiter bezeichnet. Eine solche Verachtung, die aus diesen Worten spricht, treibt vielleicht tatsächlich potentielle Wähler_innen der LINKEN dazu, dieser Partei die Stimme nicht mehr zu geben.

Wer AfD wählt, will den Standort Deutschland stärken

Eine Entschuldigung für die, die AfD gewählt haben, ist das noch lange nicht. Denn es gehört eine bestimmte Sicht auf die Welt dazu, eine rechtspopulistische Partei zu wählen. Sie stellen sich in der innerkapitalistischen Konkurrenz damit bewusst auf die Seite des „Standort Deutschland“ und positionieren sich gegen alle, die diesem Standort vermeintlich schaden und gegen alle, die darin eine sozialchauvinistische Sicht auf die Welt erkennen. Dass können Erwerbslose sein, die nicht alle Zumutungen der Jobcenter hinnehmen wollen, das können Lohnabhängige sein, die für mehr Lohn und weniger Arbeit kämpfen und nicht den Gürtel enger schnellen wollen. Das sind als Fremde markierte Menschen aus anderen Ländern, die dann zum Feind erklärt werden. Es können auch „die Griechen“ sein, wenn sie, wie 2015, mehrheitlich eine Regierung wählen, die aus dem Teufelskreis von Austerität und Verelendung ausbrechen will. Es war dann für sie eine Genugtuung, dass dieser Ausbruchsversuch vor allem an der harten Haltung der Bundesregierung scheiterte. Doch sie wollten die Disziplinierung noch verschärfen. Man darf nicht vergessen, dass die Gründung der AfD auch deshalb erfolgt ist, weil einige marktradikale Ökonom_innen beklagten, dass mit Griechenland noch zu wenig restriktiv umgegangen worden sei. Genauso restriktiv würde diese Klientel reagieren, wenn sich in Deutschland tatsächlich Lohnabhängige organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen würden. Die AfD-Wähler_innen sind diejenigen, die in solchen Konflikten auf Seiten des Managements stehen und T-Shirts mit dem Slogan „Wir sind Amazon“ oder „Wir sind Lidl“ tragen, wenn Kolleg_innen in diesen Firmen für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Es sind diejenigen, die in der internationalen kapitalistischen Konkurrenz mit den Bossen gegen andere Konkurrent_innen agieren.

Transnationale Solidarität der Lohnabhängigen

Sie sind damit völlig im Einklang mit den aktuellen Tendenzen des internationalen Konkurrenzkapitalismus. Nur wird dieser Zusammenhang in den Medien kaum dargestellt. Die konservativen und liberalen Medien haben generell nichts an der kapitalistischen Verfasstheit der Welt auszusetzen, daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sie den Zusammenhang nicht herstellen. Unverständlicher ist es dann schon, wenn selbst linke Medien die liberale Zivilgesellschaft als Gegenmittel gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus anpreisen und darüber diskutieren, ob ein Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht besser die AfD klein halten kann. Dabei sind Rechtspopulismus und liberale Zivilgesellschaft keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille. „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von der AfD schweigen“, müsste ein bekannter Satz von Max Horkheimer heute aktualisiert werden. Das Schweigen über die kapitalistische Verfasstheit der Welt als Bedingung für den Aufstieg des rechten Populismus hat praktische Konsequenzen. Es soll die Zivilgesellschaft als Hort der Liberalität affirmiert werden. Wer hingegen über den Kapitalismus nicht schweigt, hat auch andere Gegenmittel. Der Gewerkschaftler und Journalist Stefan Dietl hat in seinem, in diesem Jahr im Unrast-Verlag erschienenen Buch „Die AfD und die soziale Frage“ Antworten gegeben.

Es ist der Kampf der Menschen in Arbeitsverhältnissen, in den Jobcentern und in den Stadtteilen gegen die Zumutungen, die der Kapitalismus für die meisten Menschen bereit hält. Wichtig ist hier zu betonen, dass es sich um den Kampf aller Betroffenen handelt. Da fragt niemand, ob die Kollegin, die bei Amazon streikt, erst vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen ist oder schon immer hier gelebt hat. Denn es geht um die gemeinsamen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Löhne. Wenn Erwerbslose mit Aktionen wie „Zahltag“ im Jobcenter ihre Rechte einfordern, ist der 55jährige Mann mit anatolischem Hintergrund ebenso dabei, wie die 20jährige biodeutsche Frau. Gemeinsam streiten sie für ihre Rechte, gemeinsam machen sie hier auch gemeinsame Erfahrungen.

Her mit dem ganzen Leben

In solchen gemeinsamen Kampferfahrungen wird das Fundament einer Kooperation jenseits von imaginärer Nation und Rasse gelegt, die sich von den moralischen Appellen des gutsituierten Mittelstandes unterscheidet. Dieser in konkreten Kampfprozessen entstandene Antirassismus geht von der alten Devise der Arbeiter_innenbewegung aus, die in der Internationale so ausgedrückt wird: „Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!“. Diese Kampfprozesse drücken sich auch in dem Lied „Brot und Rosen“ aus, das streikende Textilarbeiterinnen vor mehr als 100 Jahre in den USA gesungen haben.

„Wenn wir zusammen gehen, kommt mit uns ein bess‘rer Tag. Die Frauen, die sich wehren, wehren aller Menschen Plag. Zu Ende sei, dass kleine Leute schuften für die Großen. Her mit dem ganzen Leben: Brot und Rosen! Brot und Rosen!“

Wo immer in den letzten Jahrzehnten Menschen für ihre Rechte auf die Straße gegangen sind, wurden diese Lieder wieder gesungen, manche haben sie für ihre Verhältnisse umgetextet. Aber die Grundlage blieb erhalten. Es geht um den gemeinsamen Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten, ohne zu verschweigen, dass es unterschiedliche Unterdrückungsformen gibt und Patriarchat, Rassismus und Antisemitismus nicht automatisch verschwinden, wenn die kapitalistische Ausbeutung Geschichte geworden ist. Doch alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen müssen im gemeinsamen Kampf überwunden werden. Wie weit sind solche Spuren einer transnationalen Solidarität von der postmodernen Identitätspolitik, wo es statt um Ausbeutung und Unterdrückung um Repräsentanz und Privilegien geht. Wie weit weg ist dieses emanzipative Erbe der Arbeiter_innenbewegung von den Sprüchen einer Judith Benda, die in 60jährigen Arbeitern nur Typen sieht, die verschwinden sollen. Wie weit weg ist dieses Erbe auch von jeder „Herz für Arbeiter“-Ideologie, die bei Christian Baron zumindest mitschwingt.


Peter Nowak

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Geschrieben von

Peter Nowak

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