Mittwoch gibt es Vokü

Turbostaat Die Band aus Schleswig Holstein zeigt politisch anspruchsvolle Musik jenseits von pubertären Punk und singenden Claudia Roth-Imitaten möglich ist

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Es ist fast zehn Jahre, da habe ich Turbostaat das erste live gesehen. Es war am 12. Juni 2010, als die Band im kleinen Örtchen Zossen im Rahmen eines antifaschistischen Festivals (https://inforiot.de/linker-flaeming-united-veranstaltet-antifaschistisches-aktionswochenende-in-zossen/) aufgetreten ist. Es war die Zeit, als Zossen als rechter Hotspot Schlagzeilen gemacht hätte. Nazis störten in der Innenstadt eine Veranstaltung zum Holocaustgedenken und brannten das Zossener „Haus der Demokratie,einen linken Treffpunkt ab. Die langjährige Bürgermeisterin des Ortes wandte sich aber nicht gegen die Dorfnazis, sondern die Linken, die von außerhalb kamen und die Dorfgemeinschaft störte. Das war am 12. Juni 2010 gut zu beobachten. Schon am Bahnhof war ein großes Polizeiaufgebot zu sehen und auch Antifagruppen aus Berlin und Umgebung geleiteten die Besucher*innen zu den völlig von der Polizei abgeriegelten Ort an der Ruine des linken Zentrums, wo Turbostaat ein kurzes Konzert gab. Seitdem hatte die Band bei mir Sympathien, schließlich war sie schon damals recht bekannt und begab sich trotzdem in den Polizeikessel von Zossen. Am 21. Februar sah ich die Band zum zweiten Mal, jetzt im Festsaal Kreuzberg. Wegen großer Nachfrage gab sie gleich zwei restlos ausverkaufte Konzerte. Die Band war noch keine Minute auf der Bühne, da tobte schon der ganze Saal. Fäuste flogen hoch und Jubel brandete auf. Schon an den ersten Tönen erkannten die Fans„Rattenlinie Nord“, der politischste Song auf ihrer neuen LP. Es ging um führende Nazis, die sich nach Hitlers Tod nach Schleswig-Holstein zurückgezogen hatten und dort noch einige Tage ihre Macht ausübten, die sich allerdings auf einige Landkreise beschränkte. Auch der Hitler-Nachfolger von Dönitz hatte sich auf die Rattenlinie Nord begeben. Die kurze Sequenz eines Interviews ist zu hören, in dem Dönitz noch in den 1970er Jahren den NS verteidigt. Allerdings ging diese Spracheinlage im Konzert etwas unter. Schließlich war das Publikum schon in Stimmung, tanzte und sang mit und da wirkt der Spracheinschub etwas fehl am Platz. Doch bald folgten die nächsten Songs und das Publikum blieb die ganze Zeit in Bewegung.

Als die Linke es noch mit dem Volx hatte

Gleich an dritter Stelle spielte Turbostaat den Song „Mittwoch gibt es Vokü“, dessen Ironie wohl viele gar nicht mehr wahrnehmen. Es geht um das günstige Essen in linken Zentren,das in den 1990er Jahren Volxküche oder abgekürzt Vokü genannt wurde, bevor sich die Küche für Alle (Küfa) durchsetzte, weil man mit dem „Volk“ auch mit einem X am Ende nichts zu tun haben wollte. Der Refrain „Mittwochs gibt es Vokü – mehr brauchst Du gar nicht zu tun“ ist eine gute Persiflage mancher autonomer Subkulturen, für die die Vokü der eigentliche Lebensinhalt war. Gleichzeitig wurde die Vokü als eine idealisierte Gegenwelt mystifiziert, in der scheinbar die Zumutungen der Gesellschaft zumindest tendenziell außer Kraft gesetzt schien. Viele Menschen, die an solchen Projekten beteiligt waren, sind irgendwann darauf herausgewachsen. Sie hatten einen umfassenden politischen Begriff entwickelt und sahen die Vokü nicht mehr als Nabel der Welt. Genau das wird in dem Song ausgedrückt.Der Song ist auch ein wichtiges Stück Bandgeschichte. Mehrere der Mitglieder waren im autonomen Jugendzentrum im Husum aktiv, wo sie auch das erste Mal aufgetreten ist. Nachdem Turbostaat lange Jahre vor allen in linken Jugendzentren gespielt hat, sind sie mittlerweile im In- und Ausland sehr bekannt und sorgen nicht nur in Berlin für ausverkaufte Säle. Ihre Sozialisierung in der linken Jugendzentrumsbewegung erklärt auch die Bereitschaft der Band unter den besonderen Bedingungen in Zossen zu spielen. Das gestrige Konzert machte deutlich, dass die Band ein Publikum hat, dass sich mit Antifa-T—Shirts klar positioniert hat. Neben den neuen Songs wurden auch immer wieder einige populäre Stücke von früheren Platten gespielt. Auch die wurde vom Publikum mit Begeisterung mitgesungen. Es scheinen viele langjährige Turbostaat-Fans darunter gewesen sein, die alle ihrer Songs kannten. Nach einer Stunde kamen die ruhigeren Songs, beispielsweise eins, in dem an die letzte Husumer Stadtbäuerin erinnert wurde, die zu Lebzeiten ausgegrenzt nach ihren Tod zur Figur der Geschichte wurde. Norddeutsch-knapp waren die Kommentare der Musiker zwischen den Songblöcken, was vor allem dann sehr zu begrüßen ist, wenn manche linken Musiker*innen wie Claudia Roth klingen. Das zumindest ist von dem Turbostaat-Sänger Jan Windmeier nicht zu erwarten. Es war eine halbe vor Mitternacht, als er sich nach mehreren Zugaben vom Publikum - ebenfalls norddeutsch - knapp mit „Bis demnächst“ in den lauen Winterabend verabschiedete. Gerne wieder, könnte man antworten.

Peter Nowak

Link zur neuen LP von Turbostaat:

https://turbostaat.de/2152/rattenlinie-nord

Link zum Auftritt im Festsaal Kreuzberg:

https://festsaal-kreuzberg.de/event/turbostaat/

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Geschrieben von

Peter Nowak

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