Nicht immer feindliche Brüder

Anarchisten - Bolschewiki Ein Sammelband widmet sich den wechselvollen Verhältnis zwischen Anarchist_innen und Bolschewiki und rückt manche linke Geschichtsmythen gerade.

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Julia Hertäg bespricht in Freitag 28/2018 (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/das-bin-ja-ich) einen Comic über die unpolitische Phase im Leben von Erich Mühsam. Kurz erwähnt sie auch dessen politische Positionierung zwischen allen Stühlen. In der DDR als Unterstützer einer Einheitsfront unter Einschluss der KPD respektiert und geehrt, ist Mühsam für andere der Inbegriff des libertären Kritikers gegen den autoritären Staatssozialismus. Die wollen wiederum nicht wahrhaben, dass Mühsam in den 1920er Jahren auch in anarchistischen Kreisen heftig angegriffen wurde, weil er bei aller Kritik am Staatssozialismus weiterhin gute Kontakte zur Basis der KPD und auch der Roten Hilfe pflegte. Mühsam saß also bewusst zwischen allen Stühlen. Besonders irritiert manche Anarchist_innen, dass Mühsam in seiner Zeit als Aktivist der Bayerischen Räterepublik sehr eng mit der KPD kooperierte, für kurze Zeit sogar Parteimitglied wurde, ein Fehler, den er bald korrigierte. Doch, dass er seinen Rechenschaftsbericht über seine Aktivitäten in der bayerischen Revolution an den „Genossen Lenin“ richtete, bezeichnete Mühssam auch dann nicht als Fehler, als er sich schon längst keine Illusionen mehr über die Entwicklung in der SU machte. Doch die Irritation über Mühsam ist einer weit verbreitenden Vorstellung geschuldet, dass Anarchist_innen und Bolschewiki feindliche Brüder seit jeher waren. Daher war es für viele überraschend, dass das Verhältnis zwischen den beiden Strömungen der Arbeiter_innenbewegung vor 100 Jahren längst nicht so schlecht war.

Anarchist_innen begrüssten Oktoberrevolution

Bekannte Anarchist_innen und nicht nur Mühsam aus aller Welt begrüßten die Oktoberrevolution und beteiligten sich in verschiedenen Funktionen an den Aufbau der neuen Gesellschaft in der Sowjetunion- Es ist auch der verstärkten Beschäftigung mit der Geschichte zum 100ten Jubiläum der Oktoberrevolution zu verdanken, dass das wechselvolle Verhältnis zwischen Anarchismus und Oktoberrevolution differenzierter dargestellt wird. Einen guten Überblick über die Debatte liefert der von dem Anarchisten Philippe Kellermann herausgegebene Sammelband „Anarchismus und Russische Revolution“. In 11 Aufsätzen werden die Reaktionen von Anarchist_innen und Anarchosyndikalist_innen auf allen Kontinenten auf die Oktoberrevolution nachgezeichnet. Die Differenzierung, der im Titel des Buches nicht Rechnung getragen wird, ist wichtig. Denn die syndikalistische Bewegung stand in vielen Ländern schon vor 1917 der marxistischen Theorie näher als der anarchistischen. Innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es die unterschiedlichen Strömungen. In Frankreich und anderen europäischen Ländern sorgten die Anhänger_innen von Attentaten auf Repräsentant_innen des Staats für viel Aufsehen, konnten aber keinerlei Perspektive für eine neue Gesellschaft bieten. Philippe Kellermann weist darauf hin, dass viele Anarchist_innen positiv überrascht waren, dass die Bolschewiki 1917 den revolutionären Umsturz auf die Tagesordnung setzten und damit mit den Etatismus der II.Internationale brachen, gegen den sie sich vor allem gewandt hatten. Zudem gehörten die Bolschewiki zu den Kräften, die den 1. Weltkrieg von Anfang ablehnten. Dagegen haben führende Anarchist_innen, darunter Kropotkin in Frankreich den 1. Krieg auf der Seite „ihrer“ Bourgeoisie begrüßt. Auch in Frankreich hatten sich erklärte Anarchist_innen 1914 in Windseile zu nationalistischen Kriegsbefürworter_innen gemausert.

Auch für manche Anarchist_innen ging die rote Sonne im Osten auf

Da ging für viele Anarchist_innen mit der Oktoberrevolution die Sonne im Osten auf, wie Franco Bertulocci seinen Aufsatz über die italienischen Anarchist_innen metaphorisch betitelt. Dabei muss natürlich auch berücksichtigt werden, dass die Nachrichten über das, was sich im nachrevolutionären Russland konkret abspielte, vor 100 Jahren nur sehr spärlich eintrafen. Dieses Argument wird von mehreren der Buchautoren, es sind ausschließlich Männer, zur Begründung angeführt, dass viele Anarchist_innen mit den Umbrüchen in Russland sympathisierten. Als Beleg für diese mangelnden Informationen wird angeführt, dass viele Anarchist_innen äußerten, die Bolschewiki hätten ihr Programm übernommen. Umgekehrt haben 1917 die Menschewiki und andere Gegner_innen der Oktoberrevolution wie Plechanow Lenin des Anarchismus beschuldigten. Bei manchen der Anarchist_innen, wie Rudolf Rocker oder Maletesta, die nur kurze Zeit hofften, die Bolschewiki wären zu Anarchist_innen geworden, lag es an mangelnden Informationen. Sie wurden auch sehr schnell zu vehementen Kritiker_innen der Bolschewiki. Bei anderen hingegen, überwog die Hoffnung, dass mit der Oktoberrevolution ein neues Kapitel in der revolutionären Bewegung aufgeschlagen würde und die alten Schemata von vor 1914 überwunden werden müssten.

Diese Hoffnungslosigkeit, in die sich Teile der anarchistischen Bewegung vor 1914, wird am Beispiel von Victor Serge gut geschildert. Der US-Historiker Mitchell Abidor beginnt seinen informativen Aufsatz mit dem Satz: „Victor Serge hat immer darauf hingewiesen, dass er 1919 als Anarchist nach Sowjetrussland gegangen und als Anarchist den Bolschewiki beigetreten ist“. In dem Aufsatz wird deutlich, dass Serge im Detail schon früh Kritik an bestimmten autoritären Entwicklungen in der Sowjetunion hatte, aber aus Gründen der Solidarität die Sowjetunion verteidigte. So geriet er auch nicht als Anarchist sondern als vermeintlicher Anhänger Trotzkis ins Visier der sowjetischen Staatsorgane. Nachdem er dann ausreisen konnte, wurde er in seinem anarchistischen Milieu als Verräter betrachtet. Dass er auch nach seinem Bruch mit der KPdSU zu Kronstadt differenzierte Ansichten äußerte, war für viele Anarchist_innen besonders untragbar. Abidor urteilt differenzierter, in dem er über Serge schreibt. „Dabei machte er deutlich, dass es verschiedenste Interpretationen zum Kronstadtaufstand geben würde“. Serge hatte auch als klarerer Gegner der Bolschewiki seit Ende der 1920er Jahre nicht vergessen, dass an den Häuserwänden des damaligen Petersburg „Tötet die Juden“ stand, um gegen die Bolschewiki zu mobilisieren. Mit solchen Antibolschewist_innen wollte sich Serge nie gemein machen und das spricht für ihn.

In dem Buch wird deutlich, dass viele überzeugte Kommunist_innen der ersten Stunde vorher Teil der syndikalistischen und anarchistischen Bewegung waren. Besonders in Spanien, den USA, Frankreich aber auch der Schweiz wird das im Detail nachgezeichnet.

„Es war die Zeit, wo sogar die paar Anarchisten, die der Krieg noch übrig gelassen hatte, sich dem totalen Bolschewismus zuwandten“, schreibt der Zeitzeuge Fritz Brupbacher noch Jahre nach seinen Bruch mit den Bolschewiki über die Monate nach der Oktoberrevolution in der Schweiz. Dort war der vorherige Anarchist Brupbacher zu einem Mitbegründer und jahrelangen Aktivisten der Kommunistischen Partei seines Landes geworden. Auch er wurde nicht wegen seines Anarchismus wieder aus der Partei vertrieben sondern weil er sich gegen die Stalinisierung der SU und der kommunistischen Weltbewegung wandte.

Brupbacher beschrieb mit der Begeisterung über eine Zeit, als Erich Mühsam seine Aktivitäten in der Bayerischen Räterepublik als Rechenschaftsbericht an den Genossen Lenin verfasste. Er war damals in Bayern selber an den Aufbau einer nichtkapitalistischen Gesellschaft beteiligt und stand wie viele Linke, seien es Kommunist_innen, Anarchist_innen oder Syndikalist_innen vor ähnlichen Problemen. In dem leider nur noch antiquarisch erhältlichen Standardwerk „Aufstand der Räte“ beschreibt der Historiker Michael Seligmann wie sich die Anhänger_innen der bayerischen Räterepublik von Anfang an den Hass der alten Mächte konfrontiert waren, die mit Mordhetze und Antisemitismus den Verlust ihrer Privilegien verhindern wollten. In dieser Situation sprach sich sogar der Libertäre Gustav Landauer, zeitlebens ein scharfer Kritiker des Marxismus, für eine Zensur der konterrevolutionären Presse aus. Der strikte Gegner von Gewalt wurde nach der Zerschlagung der bayerischen Räterepublik von einer entfesselten Soldateska ebenso erschlagen, wie viele andere Verteidiger_innen der neuen Gesellschaft, egal ob sie sich Anarchist_innen, Kommunist_innen oder einfach Arbeiter_innen waren, die nicht länger schlimmer als Tiere behandelt werden wollten. Ist es da verständlich, dass viele Anarchist_innen und Syndikalist_innen die Räterepublik verteidigten, die den Kräften der Reaktion stand gehalten haben? Bald jährt sich das hundertste Jubiläum der Bayerischen Räterepublik. Es wäre eine gute Gelegenheit, das von Kellermann herausgegebene Buch zu studieren über die Geschichte von Anarchist_innen und Bolschewiki, die durchaus nicht immer feindliche Brüder waren.

Peter Nowak

Link zum Buch: https://dietzberlin.de/epages/03607a27-71de-4f7f-9a3b-96673e540f68.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/03607a27-71de-4f7f-9a3b-96673e540f68/Products/02328-7

Kellermann, Philippe (Hrsg.): Anarchismus und Russische Revolution, Dietz-Verlag, 2017, ISBN 978-3-320-02328-7

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Geschrieben von

Peter Nowak

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