Plädoyer für individuelles Definitionsrecht

Ulrike Heider Die Publizstin widmet ihr jüngstes Buch dem Begehren und Liebe in der Kindheit und Jugend. Die 13 Geschichten werfen viele Fragen auf, vor allen an die Leser_innen.

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„Können Kinder lieben? Empfinden sie Erotisches? Wie steht es mit kindlicher Sexualität? Diese Fragen sorgten auch auf bei Freitag-Online für große Diskussionen. Denn was nach dem gesellschaftlichem Aufbruch nach 1968 diskutiert wurde, ist heute im Zuge eines konservativen Rollbacks längst wieder für viele ein Fall für die Justiz. Die gesellschaftliche Stigmatisierung erlebte auch die Publizistin Ulrike Heider, die 2014 mit dem Buch „Vögeln ist schön“ an den sexuellen Aufbruch von 1968 erinnert hat, ohne sich ein Büßerhemd anzuziehen. Obwohl sie durchaus kritisch auf viele der Experimente in der Folge von 1968 eingeht, stimmt sie nicht in den Chor derer ein, die diese Versuche verdammen und denunzieren. Nun hat Heider mit „Die Leidenschaft der Unschuldigen“ das Thema Sexualität von Kindern und Jugendlichen aus einer sehr persönlichen Sichtweise thematisiert. Sie hat 13 Erinnerungen über Liebe und Begehren in der Kindheit aufgeschrieben.

Der erste Aufsatz kommt von der Autorin des Buches. Sie berichtet über ihre erste Liebe mit ihren Mitschüler Ulrich, der aber scheinbar nichts davon merkte oder zumindest so tat. Die Geschichte endet tragisch, denn nachdem sich die einstigen Schüler_innen aus dem Augen verloren hatten, kam viele Jahre später ein Anruf. Heisters Bruder, ein Augenarzt, erzählte von einem einst erfolgreichen Theatermann, der nach einer schweren Erkrankung arbeitsunfähig war. Nach einer Erblindung konnte er durch eine schwierige Operation wieder etwas sehen. Der Nachname des Arztes erinnerte den Patienten an die einstige Schülerin, mit der er nichts zu tun haben wollte. So kam es 26 Jahre später doch noch zu der Begegnung, die sich die Schülerin so erhofft hatte. Doch der Kontakt brach wieder ab, die alltäglichen Arbeiten waren zu dominant und ließen zu wenig Zeit. „Ich habe Ulrich nicht mehr angerufen. Und als ich ein paar Jahre später im Telefonbuch nach seiner Nummer suchte, war kein Ulrich Heister mehr eingetragen“, lautet der letzte Satz dieser Geschichte, die schon klassische Elemente in sich birgt.

Stoff für Glück und Tragik

Auch die anderen 12 Geschichten sind durchweg kurzweilig zu lesen und bergen viel Stoff für Glück und Tragik. Wie schwer beides oft abzugrenzen ist, zeigt die Geschichte von Xavi und Samsabu Gudrich. Sie geht weit über eine Story über erotische Kindheitserlebnisse hinaus. Es geht um das Leben von zwei Menschen aus der Mittelklasse zwischen No-Future-Gefühlen, die sich bald in eine Arbeitswut bis zum Burnout steigern. Im Nachtrag wurde deutlich, wie fragil auch die scheinbar unzertrennliche Liaison der Kindheitsfreunde geworden ist. Heider ist eine meisterhafte Chronistin und bringt es fertig, die unterschiedlichen Geschichten so interessant zu erzählen, dass der Spannungsbogen erhalten bleibt. Sie steht damit in einer Linie mit Gabriele Göttle, die regelmäßig in der Taz mehr oder weniger bekannte Menschen, ihre Gedanken und Gefühle vorstellt. Heider hat Storys von Bekannten, wie Klaus Staeck, den ehemaligen Präsidenten der Akademie der Künste in Berlin, oder den früh verstorbenen Schauspieler Dirk Bach ebenso gesammelt, wie die Geschichten über weniger Bekannte. Sehr berührend ist die Geschichte der Gründerin des Living Theater Judith Malina, einer jüdischen Kosmopolitin, die in der ganzen Welt zu Hause war. und noch bis ins hohe Alter ihren künstlerischen und politischen Idealen treu blieb. Im Gespräch mit Ulrike Heider berichtet sie von einer Kindheitserfahrung, die sie als Liebe und Glück empfand, die andere als schwere Grenzverletzung deklarieren würden.

Im Geiste von Alexandra Kollontai

Die Geschichten, die Ulrike Heider aufgeschrieben hat, sind nie langweilig und werfen immer viele Fragen auf. Die wichtigste Frage aber ist die nach dem eigenen Begriff von individuellen Rechten in Fragen von Sexualität. Das Buch macht es noch einmal deutlich, dass es keine moralische oder gar behördliche Instanz geben kann, die entscheidet, was eine Grenzverletzung ist und was nicht. Wie auch in einer scheinbar geschlechtssensiblen linken Szene das individuelle Definitionsrecht ignoriert wird, zeigt ein bedrückender Beitrag von Martin, der für das von Rehzi Malzahn im Unrast Verlag herausgegebene Buch „Dabei geblieben – Aktivist_innen erzählen vom Älterwerden und Weiterkämpfen“ (http://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/dabei-geblieben-detail) verfasst wurde. Der vom Autor freigegebene Beitrag findet sich hier: (http://www.unrast-verlag.de/images/stories/virtuemart/product/576_malzahn_dabei.gebl_errata.pdf) Seine Erfahrungen haben beim Verfasser Zweifel ausgelöst, ob er überhaupt noch Teil dieser radikalen Linken bleiben will. Die Lektüre dieses Berichts und des Buches von Ulrike Heider haben mir noch einmal klar gemacht, dass die einzige Instanz, die entscheiden kann, wann eine Handlung, eine Geste, ein Blick eine Grenzverletzung oder gar ein Übergriff ist und wann nicht, nur das betroffene Individuum sein kann. Dieses individuelle Urteil ist zu respektieren und nicht durch moralische, gesetzliche, religiöse oder philosophische Erwägungen in die eine oder andere Richtung zu hinterfragen. Diese Position kann sich zumindest in Ansätzen auf die Kommunistin Alexandra Kollondai beziehen, die als Ministerin der frühen Sowjetunion das Thema der sexuellen Emanzipation in die Debatte brachte, und damit sich auch bei ihren Genossinnen und Genossen bei den Bolschewiki nicht nur Freundinnen und Freunde machte.

Peter Nowak

Ulrike Heider, Die Leidenschaft der Unschuldigen, Liebe und Begehren in der Kindheit, - 13 Erinnerungen, 204 Seiten, Bertz + Fischer Verlag, IBN: 978-3-86505-243-8,

http://www.bertz-fischer.de/product_info.php?products_id=463

Für Kurzentschlossene:

Ulrike Heider stellt ihr Buch am 26.4. um 19.30 Uhr in der Schankwirtschaft Laidak (http://laidak.net/)

in Berlin Neukölln in der Boddinstraße 42 zur Diskussion:

Peter Nowak

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Peter Nowak

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