Schneewittchen im Ökocamp

The Nature of crisis Ein Theaterabend von Constanza Macras und der DorkyPark-Compagnie verlegt alte Märchen in die Zeit der Wirtschaftskrisen

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In den letzten Tagen konnten Spaziergänger_innen im Wald rund um den Müggelturm seltsame Entdeckungen machen. Auf einen Baum sind alte Turnschuhe aufgehängt, in einem Bauchladen, wie ihn Eisverkäufer_innen tragen liegt ein toter Vogel und vorne dran steht der Preis. 1,35 Euro. Es handelt sich dabei um die Utensilien für ein ganz besonderes Theaterstück der argentinischen Regisseurin Constanza Macras, das heute zum letzten Mal im Wald rund um den Müggelturm aufgeführt wird. Theater in der Natur liegt im Hochsommer natürlich im Trend. Erst am Wochenende ging ein Out-Door Theaterfestival in Hamburg zu Ende und es ist ja auch angenehmer, im Sommer in der Natur zu sein. Selbst regnerisches Wetter hat die Freund_innen der besonderen Kunst nicht abgehalten, am Sonntagabend zahlreich zur Haltestelle Rübezahl in den Müggelwald zu kommen, wo um 19 Uhr der Treffpunkt ist. Dann beginnt erst einmal ein Spaziergang von einem knappen Kilometer in das Wäldchen. Nach knapp 5 Minuten huschen die ersten feenhaften Wesen durch das Gebüsch und leise Musik ist in den in den Bäumen aufgehängten Lautsprechern zu hören. Eine junge Frau rekelt sich auf einen Matratzenlager und in einem angedeuteten Tor steht ein Mann im Dampf. Schon ahnt man es, dass hier Märchenmotive dargestellt werden. Nun ist ja spätestens seit der Grimm’schen Märchensammlung bekannt, dass der deutsche Wald und die Märchen seit Jahrhunderten eine durchaus verhängnisvolle Symbiose eingegangen sind. Wird hier also abermals ein Stück deutscher Romantik zelebriert? Die Befürchtung nimmt zu, wenn man Schilder wie „10 % Pestizide“ am Wegesrand liest und ein Schauspieler einen schalen Witz zum Besten gibt. Danach sollen sich zwei Planeten unterhalten und der eine klagt, dass er Homo Sapiens habe und der andere ihn tröstet, dass gehe vorbei. Der Mensch als Feind der Natur und die Angst vor Giften, die als Werk schlimmer Chemiepanscher dargestellt wird, ohne dass berücksichtigt wird, dass diese Natur die größte Produktionsstätte dieser Gifte ist, was alle Pilzsammler_innen wissen, nur die romantischen Verfechter eines romantisierenden Naturbildes wollen davon nichts hören. Doch solche Sentenzen waren die Ausnahmen beim Theaterabend.

Hänsel wird Pizzabäcker und Gretel arbeitet im Callcenter

In den meisten Szenen werden alte Märchenmotive aktualisiert und mit der aktuellen Wirtschaftskrise verknüpft. So wird aus Schneewittchen ein junges lebenslustiges Mädchen aus Saragossa, das durch die Wirtschaftskrise Job, Geld und Wohnung verliert. Mit Freund_innen zieht sie in eine Ökokommune, wird aber von Vertreter_innen der Bank daran erinnert, dass sie ihr Ausstieg nicht von der Schuldentilgung befreit. Was in Spanien in den letzten Jahren Tausende Menschen in die Verzweiflung und nicht selten in den Selbstmord treibt, dass sie ihre Wohnung nicht aber die Hypothekenschulden verloren haben, wird hier in ein Märchen projiziert. Die jungen Künstler_innen der DorkyPark-Compagnie zeigen bereits auf der ersten Station ihr künstlerisches Repertoire und ziehen die Zuschauer_innen in ihren Bann. Dabei lohnt auch der Blick in die entgegensetzte Richtung, wo sich ein gutes Panorama über den Müggelsee bietet. Langsam wird es Dunkel und Taschenlampen werden verteilt, damit der Weg zu den verschiedenen Stationen gut beleuchtet wird. Die Geschichte einer Bankenkriese vor 200 Jahren wird in Englisch vorgetragen. Das letzte Drittel gehörte wieder ganz der Krise. Hänsel und Gretel sind zwei Geschwister, die von ihren krisengebeutelten Eltern zum Betteln geschickt und ausgesetzt werden. Am Ende wird Hänsel Pizzabäcker und Gretel arbeitet im Callcenter. Willkommen im prekären Alltag, das sicher auch viele der Zuschauer_innen auf einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Ebene kennen.

Am Ende 4 Minuten Stille

Das Ende des dreistündigen Theaterabends ist dann noch ein besonderer Höhepunkt. Nachdem der Erlkönig untermalt mit Punkmusik vorgetragen wird, setzt beim letzten Satz „In seinem Armen, das Kind war tot“ Stille ein. Nur einige Geräusche der in Schönefeld landenden und startenden Flugzeuge sind zu hören. Dann tritt eine Frau an ein Klavier, klappt den Deckel hoch, die Seiten des Notenbuches um, aber berührt die Tasten nicht. In New York wurde die Stille bei einer ähnlichen Performance von John Cage schon in der zweiten Minute vom ungeduldigen Publikum unterbrochen. Im Wald am Müggelsee waren die vier Minuten Stille ein guter Abschluss dieses bemerkenswerten Theaterabends.

Peter Nowak

FOREST: THE NATURE OF CRISIS

von Constanza Macras | DorkyPark
Regie und Choreographie: Constanza Macras

Premiere am 10.8.2013 im Müggelwald

Am 19.8.2013 Filmübertragung mit Live-Musik an der Schaubühne

http://www.schaubuehne.de/de/produktionen/forest-the-nature-of-crisis.html

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Geschrieben von

Peter Nowak

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