Statt Social Distancing gab es Revolution

Spanische Grippe Bei dem Vergleich der Spanischen Grippe mit Corona wird fast immer ausblendet, dass die Epidemie vor mehr als 100 Jahren auf eine Welt in Aufruhr traf.

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Aktuell wird bei der Corona-Epidemie oft betont, die Krankheit sei nicht mit einer normalen Grippe vergleich. Lediglich die "Spanische Grippe" wird als Referenz zugelassen. Seitdem beschäftigen sich viele Medien mit der Epidemie vor mehr als 100 Jahren. So erfahren wir, dass der Ländername eigentlich in die Irre führt. Eigentlich habe die Grippe ihren Ursprungsort in den USA gehabt. Daniel Bax hat im Freitag diese "Spanische Grippe" in einem Freitag-Beitrag mit dem Titel "Eine Welt als Fieber" (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/welt-im-fieber) als "Vorläufer der aktuellen Corona-Pandemie" bezeichnet. Doch einen Aspekt hat Bax vergessen, wie alle Autor*innen, die sich heute mit der "Spanischen Grippe" befassen.

Als das Virus auf eine Welt in Aufruhr traf

Die Grippe-Epidemie vor mehr als 100 Jahren traf auf eine Welt in Aufruhr. Nach der Oktoberrevolution gab es in vielen anderen Ländern Revolutionsversuche, in Deutschland am 9. November 1918 und danach in verschiedenen Landesteilen bis 1923

In diesem Zeitraum gab in vielen europäischen Ländern kurzzeitig Räterepubliken, große Aufstände und Streiks, die verbunden waren mit gut besuchten Massenveranstaltungen. Auf zeitgenössischen Fotos sieht man die Menschen dicht gedrängt auf Straßen, Plätzen oder in Fabrikhallen, die dabei waren die neue Gesellschaft nicht nur zu planen sondern praktisch in die Tat umzusetzen.

Statt Social Distancing gab es vor mehr als 100 überall revolutionäre Aktivitäten. Die wankenden alten Gewalten versuchten die Revolutionsversuche überall zu unterbinden. Aber es nicht überliefert, dass auch mit Verweis auf die "Spanische Grippe" Ausgangsverbote oder -beschränkungen ausgerufen wurde. Auch in den offiziellen und internen Protokollen der verschiedenen, an den revolutionären Bewegungen beteiligten Gruppierungen haben Historiker*innen keine Hinweise darauf gefunden, dass die Epidemie dort eine große Rolle gespielt hat. Dabei müsse es doch zu vielen Krankheits- und Todesfällen gerade auch unter der proletarischen Klasse gegeben haben, die in diesen Zeiten besonders eng zusammen waren: nicht nur wie üblich am Arbeitsplatz und den engen Wohnungen sondern auch auf den Plätzen und Straße und in den Versammlungen.

Dabei waren alle Fraktionen der Arbeiter*innenbewegung sehr wissenschaftsfreundlich und sie legten Wert auf eine Gesundheitspolitik im Interesse der armen Bevölkerung. Gesundheit und Krankheit wurden in den Aufrufen und Plakaten als Teil einer Klassenpolitik gesehen. Über Krankheit und Tod durch den Weltkrieg und die Spätfolgen wurde in den Publikationen der Arbeiter*innenbewegung sehr viel berichtet. Tatsächlich wurde in den Ländern, in der die revolutionären Bewegungen auf die Politik Einfluss hatten, viele gesundheitliche Reformen durchgesetzt, weil die krankmachenden Faktoren des alten Systems infrage gestellt wurden. Dazu gehörten in der frühen Sowjetunon die Beschlagnahme von Palästen der entmachteten alten Mächte. Sie wurden beispielsweise für Senatorien für Tuberkulisekranke genutzt, weil klar war, dass die Krankheit durch die schlechten Wohnverhältnisse stark begünstigt wurden. Auch in den Ländern, in denen die Sozialdemokratie Einfluss hattte, gab es Reformen im Gesundheitswesen. Sie werden von Daniel Bax auch erwähnt. Daher ist es bedauerlich, dass er nicht erwähnt, dass damals die Epidemie in eine Welt in Aufruhr traf. Denn nicht die Spanische Grippe sondern die starke Arbeiter*innenbewegung war dafür verantwortlich, dass es in Folge der Epidemie auch zu der Ausprägung von Sozialreformen kam, die Bax Wohlfahrtsstaat nennt. So sollte verhindert werden, dass das Vorbild der Sowjetunion, die damals in großen Teilen der Arbeiter*innenbewegung große Sympathien hatten, sich ausbreitet und eine klassenkämpferische Linke stärkt. Nicht die "Spanische Grippe" sondern die Arbeiter*innenbewegung bestimmten die Politik nach dem Ende der Pandemie. Das galt für sozialdemokratische Reformen genauso wie für eine Gesundheitspolitik im Interesse der armen Bevölkerung in der frühen Sowejtunion. Diese Erkenntnis ist in einer Zeit umso wichtiger, in der iele von einer sozialeren Welt nach dem Ende von Corona reden, ohne über die politischen Kräfte zu reden, die in der Lage wären, diese Reformen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit durchzusetzen.

Kampf für eine neue Welt statt Irrationalismus

Es gab noch einen weiteren entschiedenen Unterschied zwischen der Gesellschaft vor mehr als 100 Jahren und heute. Die "Spanische Grippe" traf auf eine Welt, in der durch eine starke und aktive Linke der Irrationalismus in der Gesellschaft für eine kurze Zeit weitgehend zurückgedrängt war. Heute trifft eine Epidemie auf eine spätkapitalistische Welt, in der immer mehr Menschen klar wird, dass sie am Ende ist. Doch es fehlt eine hegemoniale Linke, die eine neue Welt aufbauen könnte, wie es die unterschiedlichen Flügel der Arbeiter*innenbewegung vor mehr als 100 Jahren waren. Heute können sich mehr Menschen ein Ende der Menschen als ein Ende des Kapitalismus vorstellen. Dass war zu Zeiten der Spanischen Grippe anders. Da hatten die Menschen noch den Eindruck, sie bauen die neue Welt gerade auf. In Zeiten wie dieser, in der die alte Welt am Ende und die neue nicht erkennbar ist, verbreiten sich unterschiedliche Formen von irrationalistischen Bewegungen. Sie können religiöse Formen annehmen, sich in Verschwörungsvorstellungen etc. ausdrücken. Aktuell begeget uns auf sowohl bei vielen Befürworter*innen als auch Gegner*innen des Corona-Notstands irrationale Denkweisen. Hier könnte eine Erklärung für den unterschiedichen Umgang mit den Epidemien vor mehr als 100 Jahren liegen.

Peter Nowak

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Peter Nowak

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