Titel ist ein großes Missverständnis

Der Überlaufer Nach dem Roman von Siegfried Lenz gibt es jetzt den Film. Doch der Titel führt in die Irre, denn der Held des Films desertiert nicht.

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2016 istposthum von Siegfried Lenz der Roman „Der Überläufer“ erschienen, der nun verfilmt wurde und noch einige Wochen in der ARD-Mediathek zu sehen sein wird. Wie der Roman heimscht der Film viel Lob und Zustimmung ein. Zudem wurde er zu einem progressiven, gar fast antifaschistischen Film verklärt. Dass schien umso leichter zu gelingen, weil der Roman 1951, als ihn Lenz zuerst veröffentlichte, einen Sturm der Entrüstung in der BRD auslöste. Für die damals noch intakte deutsche Volksgemeinschaft waren Überläufer Verräter, die die Todesstrafe mindestens aber die Verachtung verdienten. Der Regisseur des Films Florian Gallenberger zeigte sich im Gespräch mit dem Deutschlandfunk entsetzt, dass auch 2020 noch Kommentare zu finden waren, die sich kaum von denen vor fast 70 Jahren unterschieden. Doch wer deswegen den Film als antifaschistisch und progressiv begreift, muss ihn oder zumindest nicht zu Ende gesehen haben.

Zunächst gibt es ein großes Missverständnis mit dem Titel, der aber bereits bei dem Lenz-Buch bestanden hat. Der eigentliche Held des Filmes Walter Proska ist gar nicht übergelaufen. Er hat an der Maxime festgehalten, die er bereits in der ersten Szene des Films äußerte, als ihn seine Schwester und sein Schwager beschworen, 1944 nicht mehr in einen verlorenen Krieg zu ziehen und sich in einer Kuhle zu verstecken. Er wolle seine Kameraden nicht im Stich lassen, erklärte er. Diese Sätze wiederholte er auch einige Wochen später als er irgendwo in den ostpolnischen Sümpfen abgeschnitten von der Wehrmacht gestrandet war gegenüber Wolfgang Kürschner. Das war ein junge Soldat mit eindeutig antifaschistischer Grundhaltung, der in Proska zumindest einen jungen Mann erkannte, der kein überzeugter Nazi war .In der entscheidenden Szene als Kürschner desertierte, ging Proska nicht mit, erklärte aber immerhin, dass er ihn nicht dafür verachte, dass er nicht mehr für Hitler und Konsorten Menschen erschoss, die er nicht kannte, in Ländern, in denen er nie gewesen ist. Diesen schönen Satz sagt Proska dann als er die Liebesbeziehung mit Wanda, einer Partisanin einging. Nur wenig später wird er den jungen Bruder von Wanda erschießen, einen Mann, den er nicht kannte in einem Land, in das er nicht wollte. Wäre mit Kürschner desertiert, hätte er eine größere Überlebenschance gehabt. Nur wenige Tage später hat sich Proska mit den gestrandeten Typen der deutschen Wehrmacht kampflos ergeben und kam in ein Kriegsgefangenenlager. Dort wurde er abgemagert und erfrorenen Gliedmaßen von Kürschner entdeckt und gerettet. Wie er genau übergelaufen ist wird im Film nicht gezeigt. Dafür sehenihm im Kriegsgefangenenlager als jungen Kommunisten, der gemeinsam mit der Roten Armee agiert und zumindest so viel Einfluss hat, dass er ProskaPrivilegien verschaffen kann, weil er ein „guter Kamerad“ war.

Der Filmheld ist nicht übergelaufen

Nun müsst eigentlich Kürschner der Held des Filmes sein, weil er tatsächlich übergelaufen ist, während Proska den Schritt eben nicht machte. Dass es sich hier um kein Missverständnis sondern um eine politische Sache handelte, wird im Fortgang des Films deutlich. Denn Kürschner entwickelt sich schnell in der Sowjetisch besetzten Zone schnell zu einenrealsozialistischen Bürokraten, man kann ihn sich schon als späteren SED-Apparatschick vorstellen, während Proska Zweifel äußert. Dass wäre natürlich eine interessante Geschickte, wenn in dem Film thematisiert worden würde, wie er sich gegen die Stalinisierungstellt, wie er Linke, die dabei nicht mitmachen und verfolgt werden, unterstützt. Doch davon ist im Film keine Rede. Der Kipppunkt kommt in dem Augenblick, wo Stehauf in die Kommission kommt, die Passagierscheine ausgibt, für die Proska jetzt verantwortlich ist. Dieser Stehauf warunter den verrohten gestrandeten Wehrmachtssoldaten im Sumpf ein besonderes sadistisches Exemplar, der nicht nur einen unbewaffneten Pfarrer aus der Region erschießen ließ und noch behauptete, er habe Dynamit besessen. Proska und Kürschner hatten den Mann gefanhen genommen und ihm zugsichert, dass ihm nichts passieren würde. Für Kürschner war die Szene, wo er sah, dasser von Steauf erschossen und die Leiche noch malträtiert wird, wohlder Grund, wirklich überzulaufen. Für Proska stand auch danach noch die Devise im Vordergrund, er könne „seine Kameraden“ nicht verraten. Eine bezeichnende Szene übrigens, die Kompanie mit den verrohten Wehrmachtssoldaten war ihm wichtiger als das Wort, das er dem Mann gegeben hat, als er ihn festnahm. Stehauf verhielt sich aber auch gegenüber die mit ihm Gestrandeten Wehrmachtssoldaten als Sadist und war entsprechend unbeliebt. Als der nun vonProska in seiner Funktion als Mitglied einer Kommission einen Passagierschein wollte, kippt der Film endgültig und wird politisch reaktionär. Zunächst noch schien Proska Stehauf die gerechte Strafe zukommen zulassen zu wollen. Dass sagte er ihm auch noch, als er ihm direkt ansprach und in nicht bat, sondern aufforderte, ihm zu helfen. Die Begründung hätte eigentlich die deutsche Volksgemeinschaft auch 1951 schon erfreuen müssen. Denn er sagte einfach, alle hätten ihre Leichen im Keller und niemand solle über einen andere richten. Gerade diese Sätze erweckten bei Proska wieder den Deutschen, der seine Kameraden nicht im Stich ließ. Schon vorher hatte er gegenüber Kürschner öfter mal gefragt, wie man als Deutscher denn mit „den Russen“ gemeinsame Sache machen könnte. Die Antwort von Kürschner war einfach und richtig. Was bringt jemand dazu mit den Hitler und Konsorten gemeinsame Sache zu machen? Mag Kürschner auch später der stalinistische Funktionär geworden sein, wie es im Film angedeutet wird, hier hatte er einfachdie richtigen Worte gefunden. Und weil der Film gerate hier seinen Kipp—Punkt hat, ist er politisch reaktionär.

Proska bleibt den deutschen Kameraden treu

Denn Proska stellt sich auf die Seite von Stehauf, holt ihn sogar persönlich aus dem DDR-Gefängnis Hohenschönhausen, zeigt hier also noch mal das was er unter deutschen Kameradschaftsgeist versteht. Kürschner hingegen, der Stehauf auch erlebt hat, lässt ihn erschießen. Im Film wird diese Szene so dargestellt, dass der junge Kommunist als der Täter und der sadistische Wehrmachtssoldat das Opfer ist. Das ist also eigentlich eine Story, die der deutschen Volks- und Opfergemeinschaft auch schon vor 70 Jahren gefallen hätte, wenn sie sie zur Kenntnis genommen hätten. Aber allein der missverständliche Titel verunmöglichte das. Sie konnten so gar nicht zur Kenntnis nehmen, dass Proska, der Held des Filmes, gerade nicht übergelaufen war und seinen Eid auf Hitler auch nach Kriegsende ernst nah. Dass zeigte sich in der fast klischeehaften letzten Szene. Proska hat mit einer Mitarbeiterin aus dem Amt für Passagierscheine die DDR verlassen, was nur folgerichtig war. Er ging in das Land, wo die Stehaufs eben willkommen waren. In der letzten Szene jahre später hat er schon schulpflichtigeKinder, ist mit seiner Fluchtkameradin verheiratet, die er aber nicht liebt, weil er die Partisanin Wanda nicht vergessen kann. Ihren Bruder, den er erschossen hat,spielt wohl keine weitere Rolle mehr. In der letzten Szene feiert er bei Verwandten ein kleines Fest und die deutsche Opfergemeinschaft ist perfekt in Szene gesetzt.Nach vorne schauen, heißt es.Man echauffierte sich darüber, dass man in den 1950er Jahren noch über Verbrechen des Nationalsozialismus sprach. Und als dann noch auch einepolnische Sängerin im Programm zu sehen war, mokierte man darüber. Hat man nicht gerade erst versucht, Polinnen und Polen zu Untermenschen zu machen, und jetzt muss man sie wieder als Sängerinnen in deutschen Sendern sehen?Soweit ging Proskas Treue dann doch nicht. Schließlich hat in der Sängerin die geliebte Wanda wieder erkannt. Ganz am Schluss verlässt er allein mit dem Auto Haus und Familie.Wahrscheinlich nur zum Zigarettenholen und um einen klaren Kopf zu bekommen. Denn auch jetzt wird Proska nicht überlaufen. Für ihn hätte der Titel „Er blieb den Kameraden treu“ besser gepasst. Dann hätte schon den Roman die nötige Aufmerksamkeit bei den deutschen Volksgenossen bekommen, die er verdient hat. Traurig nur, dass 2020 ein Film mit ein solcher Film als progressiv und antifaschistisch durchgehen kann und niemand widerspricht.

Peter Nowak

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Geschrieben von

Peter Nowak

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