Victor Jara Presente

FestivalMusikPolitik Von Santiago nach Berlin – Eindrücke vom diesjährigen Festival Musik und Politik

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Barbara Thalheim
Barbara Thalheim

Foto: Martencja Photography

Unter den vielen historischen Jahresrückblicken, die uns 2013 noch bevorstehen, nimmt die Geschichte vom revolutionärem Aufbruch in Chile und dessen blutige Unterdrückung eine besondere Stellung ein. Am 11. September jährt sich dieses Jahr zum 40ten Mal der Putsch, der den Pinochet-Faschisten in Chile den Weg ebnete und der in Washington mehr als nur Zustimmung erfuhr. Tausende starben in den ersten Wochen des Putsches in Chile. Wir kennen nicht die Namenlosen, die Arbeiter_innen, die erschlagen wurden, als das Militär die besetzten Fabriken räumten. Wir wissen weder Zahl noch Namen der Jugendlichen und Studierenden, die bei der Verteidigung ihrer Schulen und Universitäten ermordet und in den Fluss geworfen wurden. Wir kennen Salvador Allende, den von der Bevölkerung in demokratischen Wahlen ins Amt gebrachten Präsidenten der Unidad Popular, der auch dort Sozialist geblieben ist und deswegen im von Panzern eingeschlossenen und von Militärs bombardierten Präsidentenpalast starb. Erinnern wir uns noch? Wir kennen Pablo Neruda, Nobelpreisträger der Literatur, Kommunist und Freund Allendes, der wenige Tage nach dem Putsch von den neuen Machthabern bedroht an gebrochen Herzen starb. Erinnern wir uns noch? Wir kennen Victor Jara, den Sänger der Unidad Popular, der noch im Stadion von Santiago ins Gesicht de Henker hinein die Lieder vom Kampf der Unterdrückten sang und erschossen wurde vor den Augen von Tausenden. Erinnern wir uns noch?

Die DDR - das Chile Europas?

Das diesjährige Festival Musik und Kultur, das am Sonntagabend mit einer Hommage an Victor Jara zu Ende gegangen ist, war in den letzten drei Tagen ein Ort dieser Erinnerung. Die kleine Vorbereitungsgruppe hat es geschafft, eine Verbindung zwischen Santiago und Berlin, Hauptstadt der DDR herzustellen. Dort fand immer im Februar das Festival des politischen Lieds statt, das eben nicht nur ein kulturelles Aushängeschild der DDR sondern auch ein Fenster für einen Sozialismus jenseits der SED-Bürokratie war. Chile war ein solcher Sehnsuchtsort und als im Sommer 1971 in Ostberlin das Festival der Jugend, eine Art internationales Festival des politischen Liedes statt fand, spielte der chilenische Aufbruch eine wichtige Rolle. Die Euphorie jener Tage war noch spürbar, wenn man in den letzten Tagen Konzerte oder Diskussionsveranstaltungen im Rahmen des Festivals Musik und Politik besuchte. Freitagabend gab die Liedermacherin Barbara Thalheim ein bewegendes Konzert, in der sie auch immer wieder an Chile erinnerte, an den Traum von einer Sache, die am 11. September 1973 im Blut erstickt wurde. Aber Barbara Thalheim redete auch vom kleinen Chile in Mitteleuropa, einer DDR, wie sie real nie war aber hätte sein können, einer DDR, wie sie dissidente Linke zuweilen in und mehr noch außerhalb der SED verwirklichen wollten. Thalheim erinnerte an den 4. November 1989, als Tausende am Alexanderplatz für den Aufbau einer sozialistischen DDR auf die Straße gegangen sind. Die nominalsozialistische Bürokratie war nicht mehr in der Lage, diesen Aufbruch zu verhindern, aber schon standen die ideologischen Staatsapparate der BRD, von der Deutschen Bank über die Bildzeitung, sämtlicher Parteien und den Neonazis bereit, diesen Aufbruch zu ersticken. Wenn Thalheim dann von ihrem Besuch in einem chilenischen Theater erzählt, wo Tausende junge Leute „Victor Jara – Presente“ riefen, dann wissen wir, sie erinnern sich noch.

Ist Euch der Gedanke so fremd, dass diese Welt allen gehört?

„Erinnere Dich mit Liebe und Hass“ lautete der Titel eines beeindruckenden Defa-Filmes, der in 40 Minuten die Geschichte von Kampf und Widerstand in Chile prägnant darstellt. Es wurde auch gezeigt, wer vom Putsch profitierte und wer die ideologische Vorarbeit dazu leistet. Dazu gehören auch - wenig bekannt - , preußische Offiziere, die die chilenische Armee mit aufbauten.

Sehr eindrucksvoll auch die Lieder, die während der Zeit der Unidad Popular die Landreform begleiteten:

„Ich frage die Anwesenden: Ist Euch der Gedanke so fremd, dass diese Welt allen gehört, die darin wohnen „Reißt die Zäune ein, das Land soll allen gehören, die darauf leben, Pedro, Maria und Juan.“

Der Freiburger Liedermacher Walter Mossmann, vor einem Jahrzehnt auch Gast beim Festival Musik und Kultur, zitierte in seiner in den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts geschriebenen Ballade „Unruhiges Requiem“ diese Frage und bedauerte, dass die heute in Europa niemand mehr stellt. Doch im Jahr 2013 wird diese Frage wieder von einer jungen Generation gestellt. Das wurde am Samstagabend deutlich, als die anarchistische Berliner Band „Früchte des Zorns“ sehr persönliche und sehr treffende Songs vom Kampf und vom Überleben in dieser so unvernünftig geordneten Welt präsentierte. Ihren Song „Passt auf Euch auf“ fand ich am Beeindruckendsten. Eine der Sängerinnen erinnerte an der Kampagne „Zwangsumzüge verhindern“, die seit einigen Monaten Mieter_innen unterstützt, die wegen Schulden aus ihren Wohnungen geschmissen werden sollen. „Ob Cengiz, ob Kalle, wir bleiben alle“, lautete eine der dort gerufenen Parolen. Sie mögen nicht so poetisch sein, wie die Lieder zur chilenischen Landreform. Aber im Kern stellen sie die gleichen alten und doch so aktuellen Frage:

"Ich frage die Anwesenden: Ist Euch der Gedanke so fremd, dass diese Welt allen gehört, die darin wohnen.“

Dem Festival Musik und Kultur ist zu wünschen, dass sie auch in den nächsten Jahren ein solch politisch und kulturell gelungenes Programm zusammenstellen und dass es ihnen wie in diesem Jahr auch weiterhin gelingt, unterschiedliche kulturelle Szenen und Generationen zusammen zu bringen: zum Erinnern in Liebe und Hass, zum Diskutieren, zum Feiern.

Peter Nowak

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Geschrieben von

Peter Nowak

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