DIE VATERLÄNDER-DEBATTE Patriotismus und Nationalismus sind Begriffe aus der politischen Zoologie. Oder warum Johannes Rau seinem Redenschreiber die Ohren lang ziehen sollte
Ich schaffe es nicht zu behaupten: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Gut, meine Mutter war mit Spreewasser getauft, aber mein Vater pflegte zu sagen: "Da, wo wir herkommen, war die Hälfte Polacken, die Hälfte Juden und der Rest waren Deutsche." Auf eine solche Herkunft kann man nicht stolz sein, zumal wir nicht mal einen Bar-Pianisten in der Familie hatten, geschweige denn einen Beethoven.
Ein guter Deutscher wohnt seit tausend Jahren in Kyritz an der Knatter und ist stolz darauf, dass auch Goethe und Einstein gute Deutsche waren. Einstein nur halb, Goethe dafür doppelt.
Als ich fast 30 war, hing in meiner Wohnung an der Wand ein Manifest von Bazon Brock. Titel: Bitte um glückliche Bomben auf die deutsche Pissoirlandschaft. Mein Vater schaute mich argwöhnisch an
ich argwöhnisch an und sagte: "Das Judenjunge beschmutzt das eigene Nest." Irgendwie war er stolz darauf, dass er es trotzdem geschafft hatte, ein Deutscher zu werden und das schon vor seiner Heirat mit einer Deutschen.Für den so genannten kleinen Mann ist es immer wichtig, ein Vaterland zu haben, vor allem, wenn er aus dem Ausland kommt. Das Vaterland erinnert ihn daran, dass auch er eine Heimat hat, nicht nur die Ausländer. Aber auch Politiker brauchen ein Vaterland, auf das sie stolz sein können. Herr Thierse wäre nicht Präsident von irgendwas, wenn er kein Deutscher wäre und auch noch stolz darauf. Wenigstens im Fernsehen. Auch mein Vater war ein deutscher Patriot, der mir viel von den großen Deutschen erzählte. Große Juden oder Polen gab es nicht in seiner Erzählwelt. Da ich ein Knabe war, vor dem Krieg, besuchte ich jährlich einmal die Großmutter hinterm Ofen hinten im Osten. Das letzte Mal war ich eben fünf Jahre alt. Ich kam aus Berlin, und irgendwie, wenn ich mir dieses Kaff anschaute, wo meine Großmutter hauste, und dieses verlauste Haus, musste ich zugeben, dass mein Vater eine gute Wahl getroffen hatte. Wir hatten eine Dreieinhalbzimmerwohnung am Winterfeldtplatz mit Bad und Kachelöfen.Das galt erst recht, als zurückgeschossen wurde, denn nun wurde zwar meines Vaters ursprüngliches Vaterland zerstört, aber sein neues vorerst nicht, und brav, wenngleich ohne großen Stolz, erfüllte er seine vaterländische Pflicht, sein altes Vaterland zu überfallen. Als Deutscher in Polen war erheblich besser denn als Pole in Deutschland. Ganz zu schweigen von den Juden.Es gibt also bessere und schlechtere Vaterländer, aber gar kein Vaterland ist noch schlimmer.Der Patriot liebt seine Heimat, weil sie ihm Schutz bietet vor den Patrioten der anderen Nationen. Das zeigt uns, dass man sich vor fremden Patrioten in Acht nehmen muss.Johannes Rau sollte seinem Redenschreiber die Ohren lang ziehen. Es gibt keinen moralischen Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus. Man merkt es schon an der Endung. Nur Wörter, die auf "tum" enden, bezeichnen etwas tendenziell Gutes. Christentum, Deutschtum. Wörter auf "ismus" sind dagegen negativ besetzt. Patriotismus und Nationalismus sind Begriffe aus der politischen Zoologie. Die patriotische Horde verteidigt die Beute gegen fremde Hyänen, die nationalistische wildert in fremden Revieren.Nationalisten sind Patrioten, die sich einbilden, es ginge ihnen besser, wenn sie anderen Nationen etwas wegnehmen. Daran ist soviel richtig, dass auch die schwächeren Hyänen etwas mehr von der Beute abkriegen, wenn sie größer ist. Patrioten dagegen fressen nur ihrer eigenen Horde etwas weg.Irgendwie verstehe ich die empfindsamen Intellektuellen, die lieber Patrioten wären als Nationalisten. Patria ist erbaulicher. Es klingt nach Sippschaft und Heimat. Natio ist nüchterner, meint nur den Geburtsort nicht den Charakter und klingt mehr wie Sippenhaft. An der Heimatfront kämpft man selber mit, zeigt also Gemeinsinn, die Nationalität dagegen ist etwas Passives. Deshalb neigen manche Menschen zum Nationalismus. Sie wollen was machen aus ihrer Nationalität.Seine Nationalität kriegt man aufgebrummt, und wenn man die falsche hat oder keine, was noch schlimmer ist, sehnt man sich danach. Den meisten Menschen bleibt nichts weiter übrig, als stolz zu sein auf ihre Nationalität. Sie können froh sein, dass sie überhaupt eine haben. Wer aber so richtig stolz darauf ist, ein Deutscher zu sein, wird Nationalist.An dieser Stelle wäre ein historischer Rückblick angebracht. Erst bekriegen sich die Sippen, dann die Stämme eines Volkes, dann die Völker, dann die Nationen. Sobald die Invasion aus dem Weltraum beginnt, werden alle Menschen irdische Patrioten. Dann kommt endlich auch der Inter-Nationalismus in Mode.Momentan finden in Europa nur Balkankriege statt. Auch Bürgerkriege sind selten geworden und heißen Terrorismus. Wir haben unsere Kriege und Bürgerkriege auf die anderen Erdteile verteilt. Deshalb benötigen wir zur Zeit keine Nationalisten, nur Patrioten. Die Menschen in den anderen Erdteilen hingegen brauchen gerade heute den Nationalismus. Er ist ihre letzte Waffe gegen uns Europäer.Solange bis auch unser Bewusstsein globalisiert ist, sind wir virtuelle Nationalisten. Der Franzose aber trägt mit noch größerem Stolz die Trikolore. Warum kann der Deutsche das nicht?, fragt sich da Herr Schmidt. Sei nicht traurig, Harry, seine Marseillaise ist das Deutschlandlied.Im Grunde ist alles ganz einfach: Die Hessen singen das Hessenlied, die Thüringer das Thüringerlied, die Bayern essen Weißwürste und alle gemeinsam schimpfen wir auf Oliver Bierhoff. Wo solche Mittelstürmer einen Ball aus zwei Metern über die Latte vergeigen, kann man nicht stolz sein auf Deutschland.Das Problem mit dem Deutschtum sitzt tief. Die Frage ist doch: Wie wird man überhaupt ein stolzer Deutscher? Das Bekenntnis zur deutschen Leitkultur, lieber Herr Merz, ist mir zu wenig. Da kann ja jeder kommen und sagen: "Confiteor!"Auch die Gentechnologie ist vermutlich keine Lösung. Nehmen wir folgendes Szenario an: keine Zuwanderung mehr, keine natürliche Fortpflanzung. Ab sofort wird geklont, und in 100 Jahren leben nur noch richtige Deutsche zwischen Oder und Rhein. Nicht solche wie mein Vater und ich.Worauf soll ich dann noch stolz sein? Wenn es absolut kein Kunststück mehr ist, ein Deutscher zu sein?
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