Enze« nannte Anfang der sechziger Jahre die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Autor Hans Magnus Enzensberger. Das war natürlich abfällig gemeint.
Enzensberger hatte mit einigen kulturkritischen Aufsätzen das Porzellan des FAZ-Herausgebers für kulturelle Angelegenheiten, Karl Korn, so nervös gemacht, dass der indigniert »Enze« rief.
Was soll die Reminiszenz?
»Blinder Frieden - Eine Nachschrift zum Irak-Krieg« ist die ellenlange Kriegshetze überschrieben, die dieser Tage in just der Zeitung erschien, die jener Korn von allzu opportunistischem Geseich freizuhalten versuchte - mit mäßigem Erfolg schon damals: Paul Sethe ging zur Welt, weil seine Kollegen in der FAZ die Geschäftsinteressen ihrer Arbeitgeber höher stellten, als die deutsche Frage - ein seltener Fall von klarer Linie im deutschen Journalismus.
»Blinder Frieden« also: Das Wortspiel ist entweder dumm oder tief durchdacht - vermutlich beides: Nicht dass die Friedens-Freunde blind seien, behauptet der Titel, sondern der von ihnen angestrebte Friede. Mithin seien nicht Seher die verbliebenen Kriegstreiber. Es ist der Krieg als solcher, dem Enzensberger seherische Gaben unterstellt und die Bestnote erteilt.
Hübsche Frage: Was sieht der Krieg, was der Friede nicht sehen mag? Goya hat es gemalt. Ein Gigant, hoch wie das einstige World-Trade-Center, der die Ebene überragt, zu seinen Füßen die in Panik flüchtenden Menschen. Auf einem zweiten, ähnlichen Bild, frisst der Koloss die Menschen.
Man mag es kindlich naiv finden, wenn Leute glauben, der Koloss sei aufzuhalten. Zu verhindern sei, dass er so lange Schrecken verbreitet, bis er nichts mehr zu fressen findet. Ein Grund, sie dafür zu verhöhnen und ihnen gedankliche Kurz- und Fehlschlüsse vorzuhalten, ist das nicht. Je aussichtsloser die Lage, desto größer das Recht, sich selber etwas in die Tasche zu lügen.
Der Krieg, das lehrt die Geschichte von Jahrtausenden, macht alles nur schlimmer. Kein Koloss ist so verfressen wie dieser. Die Zeiten, da man glauben durfte, der Krieg könne gerechtfertigt sein, wenn an seinem Ende ein dauerhafter Frieden stehe, sind seit neunzig Jahren vorbei. Thomas Mann durfte es noch glauben. Sein älterer Bruder schon nicht mehr. Heutzutage kann der Krieg nur noch immer mehr Krieg bewirken, weil er die Ultima Ratio einer Wirtschaftsordnung ist, die sich nur noch durch Kriege am Leben hält.
Der Friede ist und bleibt deshalb das höchste Ziel der Politik. Alles andere, so erstrebenswert es sein mag, ist ihm nachzuordnen - auch Freiheit und Menschenrechte. Ich habe am 1. Mai 1945 den jungen russischen Soldaten begrüßt, trotz seines schlechten Benehmens, weil ich hoffte, dass nun der Krieg ein Ende habe.
Das ist auch der Grund, warum mir der diplomatische Eiertanz im Vorfeld des jüngsten Krieges so suspekt war - die politischen Bedenken, die alle darauf hinausliefen, dass ein Angriffskrieg der Supermacht gegen einen Zwergstaat eben doch legitimiert sei, wenn nur gewisse Voraussetzungen dafür vorliegen.
Einige Vergleiche, die Enzensberger zieht, scheitern an der Disproportionalität ihrer Gegenstände: »Hitler, Stalin, Franco, Pinochet, Ceausescu, Mobutu, Milosevic, Saddam, Castro«, und auch die ahnungslose Behauptung, die USA hätten 1941 zwecks Wiederherstellung von Demokratie und Menschenrechten in den Krieg eingegriffen, gehört zu Enzensbergers Plattitüden.
Ich wünschte, Hitler hätte nicht mehr Menschen auf dem Gewissen als Saddam, nicht mehr Völker überfallen als Franco und keine größere Gefahr für einen ganzen Erdteil bedeutet als Milosevic. Ich weigere mich übrigens auch Stalin mit Hitler in eins zu setzen.
Einige Schuhe hingegen, die Enzensberger mir in seiner erwähnten Suada hinhält, ziehe ich gerne mir an: Dass ich, blinder Friedensfreund, immer bereit sein werde, Grundrechte dem Frieden zu opfern zum Beispiel. Ja, ich gestehe: Ich wusste, dass es in der DDR ein MfS gab, dass es in der UdSSR nicht weit her war mit der Volksdemokratie und der Macht der Sowjets und war trotzdem für die Ostpolitik der SPD, gegen den kalten Krieg und den Nachrüstungsbeschluss der NATO und für eine Stärkung des sozialistischen Lagers. Appeasement ist immer gut, und wenn der Krieg ein Jahr später beginnt.
Ich weiß auch, wie antisemitisch die arabischen Gesellschaften sind, wie reaktionär ihr Glaube an Allah und Mullah und den charismatischen Führer. Der Irak war nie die Schweiz oder Schweden, und wird es nicht werden. Aber es gibt andere Möglichkeiten, ein Volk von seinem Tyrannen zu befreien, als die Kriegsverbrechen, die die USA und ihre Alliierten in den letzten Wochen verübt haben.
Die jüngste Geschichte kennt fast nur Beispiele dafür. Die Menschen in Chile, Uruguay, Argentinien, Griechenland, deren Mörder allesamt von den USA unterstützt wurden, haben sich in den letzten drei Jahrzehnten ihrer Militärdiktatoren entledigt, ohne Krieg - die Türkei schon zwei Mal. Es gibt auch andere Möglichkeiten, sich gegen irre Terroristen zu wehren, als die Politik der verbrannten Erde der israelischen Armee in den palästinensischen Autonomiegebieten.
Enzensberger unterstellt allen, die gegen den Krieg sind, mit Mördern und Gewaltherrschern zu sympathisieren. Ich behaupte: Kriege erzeugen Tyrannen, der Friede beseitigt sie. Er ist ihnen widerwärtig.
Meinem angeblich blinden Frieden setzt der Kollege seinen blinden Hass entgegen. Das ist impertinent. Meine minderjährigen Töchter, die sich seit Wochen vor irgendwelchen US-Einrichtungen die Beine in den Bauch stehen, und alberne Sprüche skandieren wie »Husch, ab in´ Busch, Bush!«, folgen der Binsenweisheit »Was du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinen anderen zu«.
Was der Kriegstreiber der FAZ nicht ahnt: Sie interessieren sich neuerdings für Marx und das Wort Sozialismus - jene Namen ausgerechnet, die Enzensberger so degoutant findet wie den Frieden. Er wird noch viele Kriege bejubeln können, wenn das US-Establishment seinen neo-imperialistischen Kurs unter dem Banner von »Freedom and Democrazy« nicht bald beendet. Ja, man fühlt sich an Brechts »anachronistischen Zug« erinnert, wenn man die Führer der Kriegskoalition hört.
Enzensbergers Apotheose des gerechten Krieges ist Nachtlektüre für einen der sich auszieht, das Gruseln zu lernen. Es fehlt kein Klischee aus dem Kanon der Dumpfbacken. Freiheit statt Sozialismus. Wer Friede sät, wird Diktatur ernten. »Der Code der Politik ist mit dem der Moral nicht deckungsgleich.«
Nebbich. Klüger wäre es freilich, über die Politikanteile einer vernünftigen, weil menschenwürdigen Moral und die Moralanteile einer vernünftigen Politik zu spekulieren. Der Irak-Krieg ist eben nicht nur moralisch, sondern auch politisch betrachtet eine Katastrophe - aber das gilt für die gesamte derzeitige Nahostpolitik, nicht nur für die Kriegskoalition der »Willigen«, sondern auch für die UN und die Achse Chirac-Schröder-Putin. Hören Sie zu, Hans Magnus: Sozialismus oder Barbarei, das ist die wirkliche Alternative!
Seit über 100 Jahren versuchen westeuropäische Weltmächte, seit fünfzig Jahren auch die USA, die Völker der arabischen Welt von Tyrannen und Fremdherrschern zu befreien, ihnen die politischen Errungenschaften Westeuropas zu bringen. Immer mussten wir irgendwas befreien im Nahen Osten. Eine schier endlose Kette von Interventionen, nicht nur kriegerischer Natur.
Die Auswirkungen dieser europäischen und jetzt eben auch Washingtoner Kolonialpolitik sind evident. Mit jedem Kreuzzug haben wir uns jener Region mehr entfremdet, eine quasi natürliche Entwicklung politischer Strukturen behindert und für soziales Chaos gesorgt.
Der jetzige Zustand des Nahen Ostens zeigt, dass die Staaten der imperialistischen Internationale nur eine Chance haben, ihre Interessen dauerhaft zu realisieren, nämlich, wenn sie strikt auf jede Einmischung in die Angelegenheiten der Nahost-Staaten verzichten. Das schließt Hilfe und Beziehungen aller Art nicht aus, wohl aber die derzeit üblichen Praktiken - Erpressungen, Kriege.
Enzensbergers lustvolles Gestöhn über die vielen Gewaltherrscher und ihre armen Opfer unterschlägt einen entscheidenden Fakt: Kaum einer der Unholde auf der »Achse des Bösen« ist nicht mithilfe einer westlichen Macht an die Macht gekommen, militärisch und polizeilich hochgerüstet und gestützt worden. Die Empörung der US-Regierung über den irren Diktator vom Tigris ist auch deshalb so verlogen, weil sie selber ihn installiert und gehätschelt haben.
Falsch wäre es nur, Bush zum alleinigen Versager zu machen. Das wird sich zeigen, wenn die USA ihre Politik nach seinem baldigen Ableben fortsetzen werden. Herr Bush führt eine Außenpolitik vor, die mit Intervallen seit zweihundert Jahren zum System seines Landes gehört. Die jetzige Intervention im Nahen Osten ist die Fortsetzung einer langen Reihe von Eroberungskriegen, die sie in Mittel- und Südamerika und im Pazifik zur Hegemonialmacht gemacht.
Lieber ist ihnen natürlich die Methode Chile, also der ferngesteuerte Putsch einer autochtonen Compradorenbougeoisie. Die war im Irak eben nicht in Sicht, was für Saddams Weitsicht spricht.
Relativ neu am Bild der US-Administration ist also nur, dass ein christlicher Fundamentalist ein so hohes Staatsamt zugespielt bekommt und die Vertretung oligarchischer Interessen so offen und ungeniert betreiben darf. Auffällig auch, dass er die Macht einer Wahlfälschung seines Bruders verdankt.
Antiamerikanismus, den Enzensberger der Friedensbewegung unterstellt, wäre dennoch ein unverzeihlicher Fehler, schon wegen der Militanz und Breite der Opposition in den USA. Der Protest muss nach wie vor gegen die aktuellen Befehlsorgane und die dahinter stehenden Klasseninteressen gerichtet sein.
Also Bush und seine Junta. Er ist die Verkörperung des Krieges. Er verrät die Ideale, die in Jahrhunderten des politischen Denkens seit der frühen Neuzeit erkämpft wurden. Er ist es zur Zeit, der, wie Aischylos sagt, die Sieger den Besiegten ähnlich macht.
Nun haben wir die große Koalition der Kriegsgegner, was besonders in Deutschland erstaunlich ist. Als Enzensberger vor 37 Jahren gegen den Krieg der USA gegen das vietnamesische Volk war, hatten wir eine große Koalition der Befürworter des Krieges und Grass war ihrer Wortführer - tempora mutantur.
Hans Magnus tut so, als wüsste er das nicht, und schimpft einen ellenlangen Dreispalter lang auf die alten Feinde der deutschen Stammtische und Dunkelmänner - die bösen Gewerkschaften, die naiven Pfarrer, die blinden Friedensfreunde, die Chimären des Sozialismus, die unbelehrbaren Sozialisten.
Aber man spürt: Es ist die unbegreifliche soziale Breite der Protestbewegung, die er braucht, um sich aufzuregen. An dieser Stelle darf geschmunzelt werden. Ich bin sicher: Stünden SPD, CDU, Grüne halbwegs geschlossen hinter der Koalition der Willigen und ihrer Billiger, Enzensberger wäre der erste, der sich zurückmelden würde an der Friedensfront.
Er war immer ängstlich bemüht, nicht der Mehrheit zu gefallen. Er ist ein Snob, ein politischer Dandy, ein Schaffner, der ruft: »Alles einsteigen!« und dann in den Gegenzug steigt, weil der so schön leer ist. Für ein selbstständiges intelligentes Denken spricht das nicht. Das macht ihn so glitschig.
Nun gut. Es ist einfach über einen Artikel zu schreiben, den niemand gelesen zu haben braucht. Eine Prognose versteht sich auch so: Wenn demnächst das in Deutschland wirkende Kapital die leitenden Angestellten seines Staates auf den Weg der transatlantischen Treue zurückbugsiert haben wird, hat der sprichwörtliche Hase »Enze« mal wieder präventiv auf der richtigen Seite gestanden.
Ick bin all hier!
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