Plötzlich schreiben alle Briefe. Richtig mit Anschrift und Anrede. Manche kleben sogar 1,10 DM drauf statt 0,80 DM, damit es nicht so nach Info-Brief aussieht.
Die eine Partei schreibt an ihre Genossen, die andere an ihre Rentner, Couponschneider und Landwirte unter hundert Hektar, und die dritte bittet um eine milde Gabe. Woher wissen die, wo ich wohne?
Bisher war es so: Meine Frau geht zum Briefkasten und ich rufe: »Hab' ich Post?« Gut, mal fragte Reclam in Ditzingen, ob sie ein Gedicht von 1966 nachdrucken dürfen, und monatlich schickt der Südwestfunk seine Bücherliste, wo ich nie drauf bin. Wieso heißt das Ding dann Bestenliste? Aber ansonsten teilte mir bisher höchstens mal eine Postkarte voll unleserlicher Namen mit, daß der Geburtstag von Rosy sehr schön wäre.
Doch plötzlich schreibt man mir Wesentliches, und heute haben mich sogar sehr argumentativ und persönlich die Rheinisch Westfälischen Elektrizitätswerke gebeten, nicht den Energielieferanten zu wechseln. Nun warte ich nur noch auf Post der grünen Windradbetreiber von Eifel, Hunsrück und Westerwald. Ihr Strom wäre zwar nicht billiger, aber viel umweltfreundlicher.
Ich will jetzt nicht erörtern, warum die FDP mir schreibt. Liegt's am akademischen Grad oder daran, daß ich neben dem Giro ein Sparbuch habe? Mir ist auch unbekannt, warum die schwarzen Schwesterparteien mich für einen Landwirt im Rentenalter halten. Weil ich eine Pension der ARD beziehe?
Ich kann nicht einmal über Form und Inhalt der vielen Briefe räsonieren, da mir hauptsächlich Leute schreiben, denen ich nie schreiben würde, und die deshalb auch nicht fürchten müssen, daß ich ihnen antworte. Soll ich Herrn Schröder vielleicht antworten? Ich wüßte nicht, was. Auch Herrn Schäubles Rentenpläne sind mir egal. Meine Regelaltersrente liegt unterm Sozialhilfesatz.
Die Erneuerung eines alten Genres im Zeitalter der neuen Medien ist dennoch nicht uninteressant. Sie erinnert mich ans Studium am publizistischen Institut in Westberlin, so um 1953. Harry Proß, mein verehrter Lehrer, sagte damals, die attische Demokratie habe nur funktioniert, weil alle Wähler sich jeden Morgen auf der Agora trafen und im übrigen jederzeit durch Zuruf gefragt werden konnten, ob man den alten Sokrates jetzt endlich hinrichten sollte. Nun hat die Größe der völkischen Gebilde schon längst alle demokratischen Dimensionen überschritten, und der soziale Antagonismus hat den Prozeß der politischen Entscheidungsfindung zwar vereinfacht, aber zu massiven Legitimationsproblemen der Regierungen geführt. Kein Kanzler möchte sich nur auf die Inhaber von Auto-Aktien stützen, kein Außenminister nur auf das Lächeln von Mady Albright.
Seit über hundert Jahren gibt es eine Verfassungsdebatte, die um die Frage kreist: Wie bestellen wir unsere Sachwalter in der Gesetzgebung, wie die Spitzen der Regierungen, welche gesellschaftlichen Interessen sind zu berücksichtigen, sind plebiszitäre Elemente erwünscht et cetera. Diese Diskussion wurde in Deutschland vor 50 Jahren erstmal auf Eis gelegt. Wer heute danach fragt, kriegt von der Journaille eins aufs Dach, kann jedenfalls nicht Beamter werden und im privaten Bereich höchstens Maurer oder Konditor. Der letzte Großversuch, die politische Repräsentation auf eine sozial ausgewogenere Basis zu stellen, fand in der DDR statt und endete in der Gauck-Behörde.
Seither herrscht scheinbar unangefochten das Prinzip der repräsentativen Demokratie (Rep-Dem). Aber haben wir in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt eine solche? Haben wir nicht.
Rep-Dem heißt, alle Wahlberechtigten wählen von den Parteien vorsortierte Repräsentanten, die ihre Geschicke leiten. Problem also: Die Auserwählten versprechen das Blaue vom Himmel und streichen das Schlechtwettergeld. Da waren die alten Römer ehrlicher. Damals kriegte man wenigstens Bargeld für seine Stimme.
Aber warum können Politiker nicht Wort halten? Sie dürfen es nicht, weil sie nicht ihren Wählern, sondern angeblich nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. So ähnlich steht's im Grundgesetz.
So nähern wir uns der neuen Briefkultur. Es gibt vermutlich kaum einen Stand, der nicht nur so lügt, sondern auch so belogen wird wie die Politiker. Dieselben Bürger, die da klatschen, wenn der Wahlkreisabgeordnete ins Festzelt marschiert, wissen um die Korrumpierbarkeit der politischen Klasse, und keiner lehnt eine Einladung zum Bundespräsidenten ab, bloß weil der eine Null ist.
Natürlich lassen die Fischers und Merkels sich nicht mit Geld bezahlen. Es gibt vieles, wofür man seine Grundwerte verkaufen kann, so man bei Amtsantritt welche hatte. Das Ergebnis ist das gleiche: Das Vertrauen der Wähler in die Politik schwindet, wie man so sagt.
Ob Briefe helfen, die Reihen hinter den Vormännern wieder zu schließen? Bei Rentnern, die nicht viel Post kriegen, mag es nützen. Auch die Unterschriftenaktion gegen Asylbewerber soll ein Erfolg gewesen sein. Seit es Demagogen gibt, wissen wir, daß plebiszitäre Elemente in Blutrausch verfallen können.
Eins fällt auf: All diese Briefe wiederholen nur das, was ihre Absender schon im Fernsehen gesagt haben. Vermutet Schäuble vielleicht, die Leute glaubten ihm nicht, wenn er über den Bildschirm vom rot-grünen Rentenbetrug spricht? Der Brief steht fraglos, ähnlich dem Tagebuch, hoch oben auf der Wahrhaftigkeitsskala. Für die Öffentlichkeit bestimmte Glaubensbekenntnisse sind per se unglaubwürdig. Der Roman war einst deshalb so beliebt, weil er nicht der Realität entsprach. Heute tut das der Fernseher. Dem Brief dagegen vertraut man an, was man sich nicht zu sagen traut, schon gar nicht dem geschwätzigen Telefon.
Deshalb ist die neue Briefkultur ein Rohrkrepierer. Indem sie das Private und Vertrauliche öffentlich macht, verstößt sie gegen die Regeln des Genres und kann nur den gleichen Blödsinn verlautbaren, den wir schon kennen.
Also nichts gegen Briefe, auch nichts gegen Infopost. Aber es sollte schon was anderes drinstehn.
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