Gischt oder Das kurze Leben des F.W. Murnau

Kehrseite I Am 5. April 1931 lief ein Schiff aus Amerika in den Hamburger Hafen ein. Auf dem Schiff war ein Sarg, im Sarg lag die Leiche des Filmregisseurs F.W. ...

Am 5. April 1931 lief ein Schiff aus Amerika in den Hamburger Hafen ein. Auf dem Schiff war ein Sarg, im Sarg lag die Leiche des Filmregisseurs F.W. Murnau.

Am 11. März hatte Murnau ein Auto gemietet, um von Los Angeles nach Santa Monica zu fahren. Die Firma hatte mit dem Wagen auch einen Chauffeur bereitgestellt. Dieser Mann, ein gewisser John Freeland, sagte später aus, er habe irgendwann angehalten, um zu tanken. Dabei sei er auch kurz aus dem Auto gestiegen, um sich die Beine zu vertreten. Als er sich wieder ans Steuer setzen wollte, habe Murnaus Diener, ein junger, gutaussehender Philippino namens Garcia Stevenson, am Steuer gesessen. Er habe sich zunächst geweigert, Stevenson fahren zu lassen, so Freeland, aber Murnau sei bereit gewesen, die Verantwortung zu übernehmen, also habe er nachgegeben. Garcia fuhr schnell, viel zu schnell, er habe ihn immer wieder ermahnt, langsamer zu fahren, sagte Freeland später aus, er könne sich diese absurde Fahrweise auch nicht erklären, vielleicht habe Stevenson mit seinen Fahrkünsten angeben wollen, vermutete er. Garcia selbst war in diesem Punkt seiner Aussage sehr vage, aber man gewinnt den Eindruck, die Fahrt sei eine Mischung aus Provokation und Verführungsversuch gewesen, eine Art erotischen Spiels zwischen Garcia und Murnau, aber das ist Spekulation, vielleicht war der junge Garcia Stevenson auch nur einfach sehr übermütig an diesem Tag. Irgendwann sei ein Lastwagen auf der schmalen Straße entgegengekommen, sagten Freeland und Stevenson übereinstimmend aus, Garcia habe versucht auszuweichen, sei von der Straße abgekommen und der Wagen sei eine steile Böschung hinabgestürzt. Garcia, Freeland und Murnaus Hund blieben so gut wie unverletzt. Murnau schlug mit dem Hinterkopf auf und wurde schwerverletzt ins Krankenhaus von Santa Monica gebracht, wo er kurze Zeit später starb.


Es ist früher Morgen. Der Pazifik in seinem Rücken rauscht gischtend über den Strand. Murnau, in Badehose, mit tropfenden Haaren, ein großes, weißes Tuch über der rechten Schulter, geht vom Meer zum Haus. Ein unsichtbarer Vogel kreischt. Auf der Veranda des Hauses sitzt Bob Flaherty und schaut ihn ernst an. Murnau weiß, Flaherty ist unzufrieden mit dem Verlauf der Dreharbeiten des Films Tabu, den zu drehen sie seit bald einem Jahr in der Südsee sind. Murnau führt Regie, Floyd Crosby steht hinter der Kamera, für Flaherty gibt es nichts zu tun. Und er ist auch übel gelaunt, weil es nicht die Art von Film wird, die er sich vorgestellt hatte: ein genau beobachteter, einfühlsam gefilmter, fast ethnologischer Film, ein Spielfilm zwar, aber so nahe wie möglich am Dokumentarfilm. Für Flaherty ist der Film, den Murnau dabei ist zu drehen, zu inszeniert. Auch Murnau wollte die großen Studios und die teuer bezahlten Stars Hollywoods hinter sich lassen, um mit Laiendarstellern, mit Eingeborenen in ihrer Umgebung einen einfachen Film mit einfachen Mitteln zu drehen. Aber unabhängig von den Mitteln, die er zur Verfügung hat, und auch unabhängig vom Ort, wo er dreht, ist für Murnau ein Film nicht einfach nur die Abbildung von Wirklichkeit.

Murnau bittet David, Robert Flahertys Bruder, an einer langen Tafel Platz zu nehmen. Durch die Fenster von Murnaus schlossartigem Haus sieht man in der Tiefe die Lichter von Hollywood und sogar von Los Angeles schimmern. David ist seit wenigen Tagen aus Tahiti zurück, Murnau hat ihn zum Abendessen eingeladen, um sich von der Südsee erzählen zu lassen. Irgendwann sagt er: "Was halten Sie davon, wenn wir zusammen in die Südsee reisen? Ihr Bruder und ich könnten dort zusammen einen Film drehen." David ist überrascht. Murnau gilt als ein mächtiger Mann in Hollywood, einer der bedeutendsten Regisseure hier. David hatte keine Ahnung, dass der berühmte Murnau aus Hollywood weg will, und nicht zurück nach Berlin, sondern in Richtung Südsee. Hollywood sei ihm längst zuwider, sagt Murnau, diese Stadt und die Konflikte mit der Fox hätten ihn zermürbt. Er wolle einen Film in größtmöglicher Unabhängigkeit in der Südsee drehen. Er bewundere die Filme von Robert Flaherty. Bob habe ja schon mehrmals in der Südsee gedreht, er kenne sich dort unten aus. Am nächsten Tag fahren David und Murnau zu Robert Flaherty nach Tucson. Bob ist begeistert von Murnaus Angebot. Er bewundert Murnaus Filme ebenso wie dieser seine. Am 18. April 1929 stechen Murnau und David auf Murnaus Yacht in See. Robert Flaherty folgt einen Monat später auf einem Dampfer.


Es ist tiefe Nacht. Murnau, im Smoking, steht am offenen Fenster seines Zimmers in einem kleinen Hotel. Er kann den Ozean in der Dunkelheit rauschen hören. Er ist eben von der Galavorführung seines ersten amerikanischen Films Sunrise im Carthay Circle Theatre heimgekommen. Er hat noch den lang anhaltenden, frenetischen Applaus, die Klänge der Musik im Ohr. Mr. William Farnum fungierte als Zeremonienmeister, Mr. Carli Elinor und sein berühmtes Orchester gestalteten den Abend musikalisch, die Galavorführung war ein rauschender Erfolg. Die Kritik war hingerissen von diesem Film. Der Schriftsteller Robert Sherwood hatte in Life nach der Uraufführung des Films einige Wochen vorher geschrieben, dass er, seiner Bewunderung für Ernst Lubitsch zum Trotz, Murnau als den größten aller Filmregisseure ansehe, und Sunrise für ihn der bedeutendste Film der Filmgeschichte sei. Aber Sunrise war ein sehr teurer Film, und Murnau weiß, die Begeisterung der Intellektuellen ist keinen Pfifferling wert, wenn


Warum hatte Willi mitten im Satz aufgehört zu schreiben? War er unterbrochen worden? Wodurch? Was war geschehen vor zwei Tagen? Claudia hatte den Computer angemacht, ohne genau zu wissen, was sie suchte. Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, untätig herumzusitzen. Sie hatte seine E-Mails durchgeschaut, lauter berufliche Nachrichten, keine enthielt einen Hinweis auf sein Verschwinden. An diesem Text über Murnau musste er zuletzt geschrieben haben. Neben der Tastatur lag das Päckchen Gitanes und ein Feuerzeug. Warum hatte er die Zigaretten vergessen? Dieser mitten im Satz unterbrochene Text war beängstigend. Wie wenn da etwas abgerissen wäre. Zum Verstummen gebracht. Es war sinnlos, sinnlos hier herumzuwarten. Man musste etwas tun. Alarm schlagen. Irgendetwas tun. Irgendetwas

Der Text stammt aus dem soeben erschienenen Roman Gischt von Peter Oberdörfer. Peter Oberdörfer wurde 1961 in Südtirol, Italien, geboren. Er arbeitet als Autor, Schauspieler und Regisseur in Meran.


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