Eurovision Song Contest: Wir sind Pop-Entwicklungsland
Meinung Der letzte Platz für Lord of the Lost in Liverpool überrascht keinen: Made in Germany ist beim ESC als Marke verbrannt. Wie es jetzt weitergehen kann? Peter Rehberg hätte da einen Vorschlag
Aus Höflichkeit redete man schon gar nicht mehr drüber. Den internationalen Kolleg_innen im Pressezentrum war während der ESC-Woche in Liverpool schon lange klar, dass es für Deutschland wieder mal nichts wird mit einer Platzierung im Mittelfeld, geschweige denn in den Top Ten, während die deutschen Kolleg_innen es zwar irgendwie ahnten, aber doch noch nicht wahrhaben wollten (in den vielen Fanforen online schnitt der Beitrag schon Wochen vorher nicht viel besser ab). Mir selber wurde am Freitag vergangener Woche nach der ersten Kostümprobe für das Finale klar, dass Deutschland wahrscheinlich wieder letzter wird – als Leadsänger Chris Harms von Lord oft the Lost (LOTL) sich gar nicht die Mühe machte, im Bühnenoutfit zu erscheinen, son
tfit zu erscheinen, sondern in Leopardenleggings mit Muschibild im Schritt ganz gemütlich seine Probe absolvierte.Die Beiträge, die sich realistischerweise ein Abschneiden auf der linken Seite der Tabelle mit 26 Plätzen erhoffen konnten, hatten alle ein Verständnis dafür, was eine Performance 2023 auf der ESC-Bühne bedeutet. Mode, Haltung, Visuals, Choreographie, der Wechsel der Kameraeinstellungen im Zusammenspiel mit dem Rhythmus, das alles gehört dazu. Diedrich Diederichsen hatte es in seinem Buch Über Popmusik genau erklärt: Popmusik ist eine medienspezifische und komplexe Kunstform und nicht einfach nur Musik für die Massen. In Deutschland sitzt man immer noch dem Missverständnis auf, es ginge hier hauptsächlich um Musik alleine und ist dann beleidigt, wenn diese nicht gewürdigt wird. Nun kann man die Musik von LOTL mögen oder nicht, mein Geschmack waren sie nicht, aber darum geht es nicht. Beim ESC gibt es Platz für jede Stilrichtung, wie die sehr unterschiedlichen Gewinner_innen der letzten Jahre gezeigt haben.Eingebetteter MedieninhaltDeutschland hat mal wieder, wie schon im Jahr davor mit dem süßen Malik Harris, einfach ein paar Musiker auf die ESC-Bühne gestellt, die dann zum Halb-Playback einen Live-Act simulieren, während niemand darüber nachzudenken schien, wie das auf dem Fernsehbildschirm rüberkommt und was für ein Gesamtprodukt Popmusik man hier überhaupt anbietet. Während andere Länder fantastische Geschichten auf der LED-Leinwand im Bühnenhintergrund erzählen und spektakuläre Choreographien auf dem beleuchteten Boden abliefern, musste bei LOTL ein bisschen Pyro als Attraktion reichen. Die neonrote Bühnenbeleuchtung in Pyramidenformen, die sich auf dem Laufsteg, auf dem Leadsänger Chris Harms hin- und herrannte, fortsetzte, sah so traurig aus wie eine verödete 80er-Jahre Disco und war denn auch die einzige Inszenierungsidee.Deutschland punktet nur in der Kategorie LangeweileDie Idee, auf die Band selbst und sonst nichts zu setzen, war auch deswegen nicht die beste, weil ja gerade vor zwei Jahren eine Rockband mit androgynem Leadsänger in roten Lederklamotten den ESC gewonnen hatte. Måneskin sind inzwischen zu Weltstars geworden. Beim deutschen Kreativteam hatte das anscheinend niemand auf dem Schirm, während es den Fans natürlich als Erstes auffiel. Ach so, Deutschland schickt eine Måneskin-Kopie! Gucken die sich bei der ARD denn den ESC gar nicht an?Wahrscheinlich war es leider genau umgekehrt: Das hat doch geklappt, dachten die, das machen wir jetzt auch! (Ich weiß, das Publikum entscheidet, wen Deutschland zum ESC schickt – aber die Vorauswahl trifft der NDR). Das Problem ist natürlich, dass im direkten Vergleich mit den charismatischen Italienern die netten Norddeutschen von LOTL beim zunehmend jugendlichen ESC-Publikum (50 Prozent der Zuschauenden sind unter 25) absolut chancenlos sind, Kategorie Rockopa.Ähnlich originell war zum Beispiel auch der deutsche Beitrag 2013. Nach Loreens erstem Sieg 2012 mit Euphoria (die am Samstag in Liverpool zum zweiten Mal gewann), schickte der NDR im darauffolgenden Jahr die Sängerin Cascada mit einem nicht ganz unähnlich klingenden Song, der auch noch den Titel Glorious trug. Beim ESC kopiert das Pop-Entwicklungsland Germany gerne die Vorjahressieger. Egal, ob Discosound oder Metalrock, bieder war beides. Langeweile aus Deutschland hat System. Made in Germany ist beim ESC als Marke verbrannt.Man muss es auch nochmal deutlich sagen: Vor allem Schweden und Italien, aber auch Israel und in letzter Zeit oft auch Frankreich oder Spanien (die dieses Jahr beide enttäuschend im unteren Mittelfeld landeten) schicken seit Jahren große Stars oder ehrgeizige Newcomer zum ESC, die von einem kompetenten Team mit Medienwissen auf die Spezifik des Wettbewerbs vorbereitet werden. Osteuropäische Länder wie Serbien und die Ukraine schicken sogar ihre künstlerische Avantgarde. Aus diesem Konkurrenzkampf hat sich Deutschland lange verabschiedet. Die hier verbreitete „Ironie“, man könnte auch sagen der Spott, gegenüber dem ESC dient nur dazu, die eigene Unfähigkeit zu kaschieren.Soll jetzt Stefan Raab zurückkommen?Zugegeben: Deutschland hat es nicht ganz leicht im Umfeld der anderen europäischen Länder. Stets spielten die Stimmen der Nachbarländer und der Migranten innerhalb Europas beim ESC-Ergebnis eine Rolle. Hier kann Deutschland nicht punkten. Außerdem wird der ESC auch gerne als Gelegenheit genutzt, den politisch und wirtschaftlich Mächtigeren auf dem Kontinent eins auszuwischen. Deutschland rangiert in dieser Beliebtheitsskala nicht ganz oben (ebenso wenig wie Großbritannien, das als Gastgeber dieses Jahr auf dem vorletzten Platz landete). Sich beim ESC ungeliebt und deswegen benachteiligt zu fühlen, ist aber zu bequem. Auch Länder wie Finnland und Israel kommentieren ihr Abschneiden beim ESC gerne mit Selbstmitleid, haben dieses Jahr mit einem zweiten und dritten Platz aber gezeigt, dass mangelnde Popularität oder Marginalität in Europa nicht ins Gewicht fallen, wenn das Produkt stimmt.Eingebetteter MedieninhaltVor über zehn Jahren war Deutschland schon einmal auf dem richtigen Weg. Lena hatte den ESC gewonnen und im darauffolgenden Jahr noch einmal eine Top Ten Platzierung geschafft, genauso wie Roman Lob ein Jahr später. Das ESC-Team war damals unter der Leitung von Stefan Raab, der vom ESC so viel verstand wie wenige in Deutschland. Man sollte auch Raabs Humor in dieser Sache nicht missverstehen. Bei vollem Bewusstsein des Trash-Faktors nahm er den ESC absolut ernst und lieferte nicht einfach nur Klamauk wie zum Beispiel Deutschlands Beitrag vor zwei Jahren, Jendrik mit I don’t feel hate (vorletzter Platz), oder der dieses Jahr beim deutschen Vorentscheid zweitplatzierte Ikke Hüftgold.Die von Raab aufgebaute ESC-Kultur ist wieder verschwunden. Ihn zehn Jahre später zurückzuholen, wäre nicht der richtige Ansatz. Aber man muss sich bei der ARD dringend Gedanken darüber machen, woher man ein Kreativteam bekommt, das den ESC versteht und Künstler professionell auf den Wettbewerb vorbereitet, anstatt die nächste Runde von Musikern zu verheizen. Ein Jahr Pause wäre eine gute Idee. In Klausur gehen, ein neues Team aufbauen, Peter Urban ist ja auch nicht mehr dabei. 2025, zum 70. Jubiläum des Eurovision Song Contest, kann man es dann ja wieder versuchen.
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