Stalin-Anspielung beim ESC: Die politischen Botschaften aus Liverpool

Eurovision Song Contest Der ESC will keine politische Veranstaltung sein. Am Ukraine-Krieg kommt der Wettbewerb aber ebenso wenig vorbei wie an den Türkei-Wahlen
Beim Outfit der kroatischen Band Let 3 sind die Anspielungen auf Stalin unübersehbar
Beim Outfit der kroatischen Band Let 3 sind die Anspielungen auf Stalin unübersehbar

Foto: Jeff Spicer/Getty Images

Als das europäische Fernsehpublikum letztes Jahr die ukrainische Band Kalush Orchestra zum Gewinner des Eurovision Song Contest (ESC) in Turin machte, war das zwar eine starke Geste der Solidarität, sie hatte aber auch einen Beigeschmack: Zu einem Zeitpunkt, als wichtige EU und NATO-Länder, vorneweg Deutschland, noch darum gerungen haben, das richtige Maß zu finden, wie sie nach Russlands Invasion die Ukraine nicht nur finanziell, sondern auch militärisch unterstützen, wirkten die Sympathiebekundungen beim europäischen Televoting beinahe heuchlerisch. Sie waren genauso billig zu haben wie eine blau-gelbe Flagge am Fenster.

Ein Jahr später hat sich die Situation umgedreht, die Ampelkoalition hat ihren Kurs in der Ukraine-Politik gefunden. Auch wenn dieser nicht immer geschickt kommuniziert wird, Deutschland gehört zu den wichtigsten Unterstützern. Diese Botschaft ist auch in der Ukraine angekommen. Nun geht es eher um die Frage, wie diese materielle Solidaritätsbekundung mit sehr konkreten Auswirkungen für Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland weiter aufrechterhalten werden kann. Fraglos gehört der Zeitfaktor auch immer noch zum Kalkül der russischen Kriegsführung, irgendwann werde der Westen schon kriegsmüde werden.

Der Eurovision Song Contest, der dieses Jahr in Liverpool ausgetragen wird, weil das Event nicht im Kriegsgebiet stattfinden kann, kommt da genau zum richtigen Zeitpunkt. Trotz des Krieges ist wie auch im letzten Jahr für die Ukraine selbst klar, dass sie am Wettbewerb teilnehmen wird. Auf die europäische Bühne, die der ESC bietet, will man gerade jetzt nicht verzichten. Britische Kulturinstitutionen wie die BBC und das British Council haben ein Jahr lang sehr eng mit ihren Kolleg_innen aus der Ukraine zusammengearbeitet, um die gemeinsame Gastgeberschaft zu gestalten. Das geht vom Wording („invasion“ not „war“) über die Plattformen, die ukrainischen Künstler_innen überall in Liverpool gegeben werden, bis zur Moderation des Wettbewerbs.

Kritik an Putin: Anspielung auf Stalin

Die European Broadcasting Union (EBU) betont dabei immer wieder, dass der ESC keine politische Veranstaltung sei. Das wurde am Donnerstag noch einmal von Jean Philip De Tender von der EBU auf einem Panel bekräftigt, bei dem es um die Frage ging, ob der Eurovision Song Contest ein Mittel der Diplomatie sein könne. Offensichtlich treten dabei einige Widersprüche zutage. Zwar will der ESC nicht politisch im Sinne der Interessenvertretung eines einzelnen Landes sein. Er bekennt sich aber offen zu Werten wie Toleranz, Diversity und Inklusion. Folgt man dieser Logik, dann wird die Verurteilung des Überfalls Russlands auf die Ukraine nicht „politisch“ verstanden, sondern als eine Ahndung von Verletzungen der Menschenrechte.

Jean Philip De Tender hat außerdem die interessante Unterscheidung zwischen politisch in einem expliziten und in einem impliziten Sinne eingeführt. Als Jamala für die Ukraine beim ESC 2016 antrat, war die Botschaft ihres Liedes eigentlich klar: Zwei Jahre nach der russischen Annexion der Krim sang sie über die Deportation der Krim-Tataren 1944 unter Stalin. Für die EBU war die Message aber verschlüsselt genug, das Lied wurde zugelassen, und Jamala gewann den Contest.

Eingebetteter Medieninhalt

Der Beitrag, der dieses Jahr in Liverpool in diesem Sinne am deutlichsten eine politische Botschaft vermittelt, kommt von der Band Let 3 aus Kroatien. Ihre dreiminütige antimilitaristische Rock Opera MAMA ŠČ! ist weit entfernt von der kitschigen Antikriegsromantik aus der Schweiz: Der Schweizer The-Voice-Gewinner Remo Forrer singt mit kraftvoller Stimme „I don't want to be a soldier, I don't want to play with real guns“, was im zweiten Jahr der russischen Invasion als Friedensbotschaft überhaupt nicht mehr taugt.

Ganz anders die Kroaten. Der Military Drag von Let 3, die ihre musikalischen Wurzeln im Punk haben, kommt aus der antifaschistischen Szene Zagrebs. Im Text von MAMA ŠČ! wird unter anderem ein Traktor besungen – einen Traktor hatte der belarussische Präsident Lukaschenko Putin zu seinem 70. Geburtstag geschenkt. Noch deutlicher ist das Outfit von Leadsänger Prlja: Mit übergroßem Militärmantel, Kappe und fettem Schnurrbart sind die Anspielungen auf Stalin unübersehbar. In Liverpool zeigen die Kroaten die Karikatur des sowjetischen Diktators auf der Bühne. Deutlicher kann man Putin auf der ESC-Bühne nicht angreifen.

Wie sehr der ESC als politische Veranstaltung zu verstehen ist, zeigt sich dieses Wochenende auch noch an ganz anderer Stelle. Wegen der Genderpolitik des ESC hatte sich die Türkei unter Erdoǧan vor einigen Jahren vom Wettbewerb zurückgezogen. In seinen Wahlwerbespots zeigt der türkische Oppositionspolitiker Kılıçdaroǧlu Bilder vom türkischen Eurovisionssieg 2003. Sollte er am Sonntag die Wahlen gewinnt, so hat Kılıçdaroǧlu erklärt, wird die Türkei zum ESC zurückkehren.

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