Mancher wird bescheiden, wenn er Trost sucht. So kürzlich Hellmuth Karasek, Herausgeber des Tagesspiegel, der es in einer Fernsehdiskussion als schätzenswerten Vorzug des demokratischen Systems bezeichnete, dass in ihm - anders als in einer Diktatur - ein Spendenskandal der CDU nicht verborgen bliebe. Da er jedoch in 25 Jahren mit Kohl als Parteivorsitzendem, davon 16 Jahre mit Kohl als Kanzler verborgen blieb, ist das nicht gerade ein schmeichelhaftes Kompliment für die Ära des Oggersheimers. Denn tatsächlich: Als demokratische Körperschaft lässt sich die Partei, die Helmut Kohl so lange führte, nicht bezeichnen. Und das nicht nur wegen der zwei Dutzend oder mehr Konten, die da zur exklusiven Verfügung des Vorsitzenden angelegt worden waren, sondern weil Kohl ganz generell in der CDU einen Herrschaftsstil "kultivierte", von dem Diktatoren unter Umständen noch etwas lernen können.
Mit den Folgen hatte der gerade abgehaltene sogenannte Kleine Parteitag der Cdu seine liebe Not. Zwar hielt er krampfhaft an seinem Thema Familienpolitik fest und beschloss sogar, ganz der Aufgabe verpflichtet, ein neues Flair um die Partei zu schaffen, ein Programm, das erstmalig Familie nicht nur als eheliche Gemeinschaft, sondern als eine mit Kindern definiert, in der Eltern auch unverheiratet leben können. Aber der Oggersheimer bildete den übermächtigen Hintergrund, die Projektionsfläche, auf die sich alles bezog. Auch das, was die Partei als ganz anders arbeitende, redlich sich mühende und vor allem saubere Institution darstellen sollte.
Und die zur Aufklärung der Affäre gedachte Rede des neuen Vorsitzenden Schäuble enthielt zum Beispiel kein Wort über das berühmt und berüchtigte schwarze (!) Notizbuch mit den unzähligen Telefonnummern aus Kohls Besitz. Wann immer Bedarf war, nutzte es der Parteichef und rief einen der Untergebenen an. Der hörte einmal freundliche Nachfrage nach dem eigenen Befinden, vielleicht gar einen Gruß oder Glückwunsch zum Geburtstag und war stolz und gerührt. Auf einen solchen Vorsitzenden würde er nichts kommen lassen. Irgendwann bot sich Gelegenheit, diese Dankbarkeit zu beweisen - eine Dankbarkeit übrigens, die Helmut Kohl aus gutem Grund als einen der christdemokratischen Werte stets hoch pries. Später ging es ihm vielleicht um das Meinungsbild im Kreis- oder Landesverband, um Meinungsbildung in eine bestimmte Richtung, vielleicht um die Besetzung eines Postens oder auch nur um die Versicherung, ob man an der Basis genau so denke wie im Konrad-Adenauer-Haus. So wurden die großen Parteitags-"Erfolge" vorbereitet. "Das Geheimnis aller Siege liegt in der Organisation des Unscheinbaren", sagte dazu einmal Peter Radunski, der zehn Jahre unter Kohl Bundesgeschäftsführer der CDU war. Hätte das in einer Art Rechenschaftslegung der Ära Kohl nicht Platz haben sollen?
Manchmal war der Vorsitzende allerdings etwas ungehalten. Dann rief er nicht nur an, sondern schrieb auch einen Brief. Diese Äußerung oder jene Entscheidung sei nicht gerade hilfreich für das Fortkommen, man solle doch noch einmal nachdenken - was in der Regel geschah. War das Problem so nicht zu lösen, konnte Geld helfen, das ja nicht unbedingt bar, sondern auch in Form nützlicher Gebrauchsgüter übergeben werden konnte - beizeiten hatte Helmut Kohl gelernt, und damit später auch kokettiert: "Das Wichtigste in der Politik ist, die Kasse muss stimmen!" Wo aber sind Kassen heute?
Solcherlei Parteiarbeit verlief nahezu geräuschlos. Öffentlichkeit würde sie entwerten. Deshalb war Kohls Notizbuch ganz geheim, seine Telefonate für Außenstehende konspirative Vorgänge und seine Konten außerhalb des "Rechenwerks der Partei" am besten aufgehoben. Klarheit und Transparenz, Werte einer Demokratie also, galten nicht für den Chef. Er unterwarf sich auch allerlei lästigen Regeln nicht - und seien die noch so demokratisch zustande gekommen. Noch heute verteidigt er sich damit, "dass für mich in meinem gesamten politischen Leben persönliches Vertrauen wichtiger als rein formale Überprüfung war und ist". Und Norbert Blüm, einer seiner treuesten Vasallen, zeigte sich beim Kleinen CDU-Parteitag letzten Montag geradezu fassungslos über die Kritik an Kohls "personalen Zusammenhängen"; für ihn waren sie einfach ein Zeichen von Menschlichkeit.
Kohl hat dieses System nicht erfunden, wohl aber perfektioniert. Schon Adenauer machte aus der CDU einen Kanzlerwahlverein, diverse Landesverbände brauchten oft lange, sich diktatorischer Führer zu erwehren, und andere Parteien sind auch nicht frei von der Versuchung, die steinigen Strecken demokratischer Meinungsbildung auf verborgenen Schleichwegen zu umgehen. Gerade erst hat der neue SPD-Generalsekretär Müntefering seiner Partei, die derzeit in Nordrhein-Westfalen ihre eigenen Fähigkeiten zu Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme eindrucksvoll unter Beweis stellt, empfohlen, sich nur hinter verschlossenen Türen zu streiten, wo es allemal leichter als vor aufmerksamer Öffentlichkeit ist, widerborstige Opponenten zu disziplinieren. Und sogar die PDS denkt inzwischen darüber nach, ob die - seinerzeit aus bitteren Erfahrungen verfügte - Begrenzung der Amtszeit in Parteifunktionen beseitigt werden soll. Macht kann über transparente Entscheidungen errungen, genau so aber auch verloren werden. Machterhalt verführt zur Außerkraftsetzung demokratischer Regeln. Und die Legitimation für solchen Übergang zu quasi-diktatorischen Praktiken hat Helmut Kohl selbst einmal genannt: "Ich stehe auf den Schultern von Hunderttausenden." Die vermeintliche Massenbasis, von umtriebigen Parteifunktionären und Propagandisten erst geschaffen, ist ein Totschlag-Argument gegenüber Kontrahenten.
Und es wirkt, auch jetzt. Die Mehrheit der CDU ist bereit, die eigene Manipulierung nicht nur zu verzeihen, sondern weiter geschehen zu lassen. Einzelne, die wie Heiner Geißler zu jener "Aufklärung", die immer wieder wortreich versprochen, jedoch in der Sache nicht wirklich betrieben wird, tatsächlich etwas beisteuern, geraten schnell in die Isolierung. Der Zorn der alten Gefährten und der konservativen Machtstrategen in CDU und CSU richtet sich nicht etwa gegen Helmut Kohl, sondern gegen Geißler, der diesen Schaden benannte.
Christoph Böhr, Vorsitzender jenes Landesverbandes Rheinland-Pfalz, aus dem auch Kohl hervorging, sieht in der Offenlegung von Ungesetzlichkeiten und Verfassungsverstößen gar einen "Generalangriff gegen die Christlich-Demokratische Union". Er wie andere scheinen zu begreifen, dass die grundsätzliche Diskussion der Herrschaftsinstrumente ihres Ehrenvorsitzenden an die eigene Substanz geht. Sie sind mit der Kopie Kohlscher Methoden groß geworden und argwöhnen zu Recht, in einem tatsächlich demokratischen Wettbewerb nicht bestehen zu können. Nur einer wie Geißler, der längst aus dem "System Kohl" ausgestoßen ist, kann ein offenes Wort wagen.
So ist es denn auch kein Zufall, dass vieles, was heute über das innerparteiliche Regime der CDU bekannt wird, frappierend den Berichten über Gehorsam und Disziplin, Geheimhaltung und Kungelei, Cliquenwirtschaft und "Seilschaften" in der SED und seinem Umfeld ähnelt. "Diktatur light"; es ist faszinierend zu sehen, wie ähnlich hilflos sie agieren. Ob allerdings Familienpolitik, wenn auch mit für die CDU fast revolutionär anmutendem Ansatz reicht, um Normalität zu signalisieren, ist bei aller Hochachtung vor einer tapfer zur Sache redenden Generalsekretärin Merkel zu bezweifeln.
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