Im Osten war der Ungar Imre Nagy wohl der Erste. 1956 versuchte er den Ausbruch nicht aus dem »sozialistischen Lager« als solchem, aber aus der eisernen Umklammerung, mit der die UdSSR das Lager zusammenhielt. Die Folgen sind bekannt. Zwölf Jahre später machte Alexander Dubc?ek in der C?SSR einen weiteren Versuch. Auch er wollte sich vom »großen Bruder«, der sich eher als autoritärer »Vater« gab, emanzipieren - und einen zusehends unattraktiveren Sozialismus auch dadurch anziehender machen. Später versuchte Polen den Ausbruch aus der rot beflaggten Wagenburg. Sogar Rumänien, das allerdings ein eigenes, streng abgeschirmtes Fort innerhalb des Lagers zu schaffen gedachte, begab sich auf den Weg des verhalten Abtrünnigen.
Insofern war die Geschichte des sozialistischen Lagers immer auch die Geschichte seiner internen Kontroversen; der Moskauer Druck erzeugte stets Gegenbewegungen - bis hin zu offenen Ausbruchsversuchen. Die Sowjetunion verstand sich als Vormacht, der die anderen zu folgen hatten. »Internationalismus« war für sie zuerst »uneingeschränkte Solidarität« - vollkommen auf internationaler Ebene, aber auch bezogen auf innere Entwicklungsmuster. Die Interessen der anderen wogen wenig, und wenn sie überhand zu nehmen drohten, wurde im Zweifel das gesamte Repressionsinstrumentarium eingesetzt. Der Zerfall des östlichen Blocks in dem Moment, da die Sowjetunion Schwäche zeigte, war keine Überraschung.
Notorischer Bündnisreflex
Im westlichen Lager gab es derlei Emanzipationsbestrebungen kaum; es war viel weniger auf monolithische Geschlossenheit bedacht als sein östliches Pendant; das ergab sich schon aus dem anderen Selbstverständnis traditionell demokratisch verfasster Staaten und den mehr oder weniger vorhandenen Spielräumen, um Konflikte auszutragen. Man strebte nach Ausgleich, ohne dass dabei die Machtverteilung in Frage gestellt wurde. Hinzu kam, dass die »Bedrohung aus dem Osten« von den westlichen Staaten durchaus als existenziell empfunden wurde, die es im Innern mit starken kommunistischen oder linkssozialistischen Parteien zu tun hatten. Sie suchten den Beistand der ihnen ideologisch verbundenen Supermacht, die allein der »Gefahr aus dem Osten« Paroli bieten konnte und nahmen dafür manche Grenzen eigener Souveränität in Kauf, gewissermaßen als das kleinere Übel gegenüber einem vermeintlich drohenden Systembruch. Der notorische Bündnisreflex blieb dann auch im Nach-Wende-Jahrzehnt erhalten, obwohl der einstige Feind längst verschwunden war, aber die Gewohnheit und eine behutsame amerikanische Führung, wie sie in den neunziger Jahren Präsident Clinton praktizierte, mögen dazu beigetragen haben.
Damit ist es seit dem Machtantritt von George W. Bush vorbei. Seine globalen Ambitionen, garniert durch religiösen Missionarismus und einem simplen Neo-Ideologismus, bedienen Verhaltensmuster, mit denen an eine Sowjetunion erinnert wird, die sich - nicht unberechtigt - ständig von Gegnern umstellt sah. Moskau hatte das zu einer Politik der Abschottung und der Expansion geführt, sobald zu Letzterem Gelegenheit bestand.
Etwas sehr Ähnliches beobachten wir derzeit in der Politik der USA, die sich - nicht zuletzt bedingt durch die Sonderrolle der einzigen Supermacht - von Feinden gefährdet sieht. Zumindest seit dem 11. September 2001, der erstmals auch eigene Verwundbarkeit begreifen ließ. Die USA reagieren seither ganz ähnlich wie einst die UdSSR - und vor ihr andere Imperien. Sie verschließen sich nach außen und wollen gleichwohl expandieren - dies nicht nur materiell, sondern vor allem ideell, indem sie ihr System zum besten in der Welt verklären, um es mit diesem Anspruch zum herrschenden zu erheben. Wie die UdSSR auf ihre kommunistischen Ideale verzichten die USA dabei auf demokratische Tugenden, die ihre Begründer einst in den Lauf der Zeiten einführten. Das heißt, was die Amerikaner anpreisen, demontieren sie zugleich. Sie wollen der Welt den Respekt vor demokratischen Werten beibringen und verstoßen als Erstes erklärtermaßen gegen das demokratische Votum der höchsten Völkerinstanz, des Sicherheitsrates.
Dass ein solcher Rückfall in die Ära des Faustrechtes auf Widerstand stößt, ist eine logische und zugleich ermutigende Konsequenz dieser Entwicklung. Ein Emanzipationsstreben, wie es einmal osteuropäische Staaten gegenüber Moskau an den Tag legten, geht heute von westlichen Demokratien aus, die sich offenbar ganz ähnlichen Pressionen seitens der USA ausgesetzt sehen.
Von Frankreich, spätestens seit de Gaulle auf Eigenständigkeit bedacht, war das noch am ehesten zu erwarten. Von Deutschland, in seinem westlichen Teil seit dem Zweiten Weltkrieg wohl der treueste Verbündete der USA, schon weniger. Hier mag von Gewicht sein, dass die Politik in Berlin derzeit von Personen bestimmt wird, die zumindest partiell eine USA-kritische Sozialisation erfuhren. Der einstige Juso-Chef Schröder und der frühere Frankfurter Pflasterkämpfer Fischer gewannen ihr Weltbild auch in der Konfrontation mit dem US-Krieg in Vietnam und dem gewalttätigen Einwirken der Amerikaner auf soziale Umbrüche in Chile, Uruguay, Grenada oder Nikaragua. Zu Anti-Amerikanern machte sie das nicht, wohl aber zu kritischen Zeitgenossen, die die verderbliche Frucht diktatorischer Herrschaftsambitionen verinnerlicht haben. Wohl nicht zufällig hat Walter Kolbow, SPD-Staatssekretär im Verteidigungsministerium, dies in einer Aschermittwochsrede thematisiert. »Bush positioniert sich wirtschaftlich und politisch absolut einseitig, ohne auf irgendjemanden Rücksicht zu nehmen«, sagte er und fügte hinzu: »Das ist kein Partner, sondern ein Diktator.« Agierten die westlichen »Satelliten« bislang an langer Fangleine, schmerzte sie jetzt deren brutale Verkürzung so sehr, dass sie die Umlaufbahn lieber verlassen, als sich unter Kuratel stellen zu lassen.
Amerikas Freunde sind alarmiert
Die Emanzipation von der Supermacht - früher der DDR hinsichtlich ihres Verhältnisses zur UdSSR immer wieder dringlich empfohlen - wurde beinahe unvermittelt zur faktisch von den USA erzwungenen, reichlich ungewohnten Aufgabe der Regierung Schröder. Sie sieht sich dabei scharfer Kritik ausgesetzt - und das nicht nur von jenseits des großen Teiches, auch im eigenen Land. Es erstaunt allerdings kaum, wenn sich CDU und CSU als treueste Vasallen der USA erweisen, denn beide Parteien haben sich so eng an die atlantische Vormacht gebunden, dass ihnen selbst die kleinste Distanzierung als undenkbarer Verrat erscheint. So kann für Wolfgang Schäuble, ihren außenpolitischen Vordenker, die europäische Einheit nie eine Alternative zur transatlantischen Partnerschaft sein, so sehr die auch vom »Partner« auf der anderen Seite des Atlantiks auf die Probe gestellt werden mag. Das Unions-Establishment unter Schäubles Führung verlangt - nur wenig verbrämt - die totale Unterordnung unter den amerikanischen Willen, so wie es immer wieder nach der »Einheit des Sicherheitsrates« rief, unter der aber keineswegs eine Anerkennung des Mehrheitswillens durch die USA, sondern der Kniefall einer kriegskritischen Ratsmajorität vor Bush verstanden wurde.
CDU und CSU haben dabei zwar nicht die Bevölkerung hinter sich, die nach neuesten Umfragen zu 85 Prozent den Irak-Krieg für nicht gerechtfertigt hält, wohl aber einen bedeutenden Teil der politischen Klasse, einschließlich vieler ihrer Medienvertreter. Nur damit ist zu erklären, dass der Anti-Kriegskurs der Regierung Schröder bis heute auf eine überwiegend kritische veröffentlichte Meinung stößt, auch wenn von der Häme über den angeblichen Dilettantismus der Regierung, deren weltweite Isolation und den angerichteten außenpolitischen Scherbenhaufen, der dem Spiegel sogar ein Titelbild wert war, angesichts der für den unvoreingenommenen Beobachter durchaus vorhersehbaren Entwicklung wenig geblieben ist. Dennoch hofften selbst seriöse Kommentatoren bis zuletzt nicht nur klammheimlich auf das Ausscheren Frankreichs, Russlands und Chinas aus der Anti-Kriegsfront und damit die Isolierung Berlins, während über die US-Politik der Erpressung, des würdelosen Basarhandels und der Lauschangriffe, durch die eine Sicherheitsratsmehrheit zusammengeschustert werden sollte, kaum ein kritisches Wort zu vernehmen war.
Das jahrzehntelange Einschwören einer politischen Generation auf unverbrüchliche Treue zu den USA funktioniert - beinahe besser als in der DDR gegenüber der Sowjetunion - offenbar auch dann noch, wenn man die Supermacht zwar nicht mehr versteht, sich ihr aber emotional so verbunden fühlt, dass nahe liegende Schlüsse aus einer rationalen Analyse verdrängt werden. Daran etwas ändern kann kurioserweise nur noch die Machtarroganz der USA selbst, durch die bereits jetzt die westliche Allianz ins Wanken geraten ist, Regierungen wie die britische oder türkische destabilisiert wurden, und die Supermacht in wachsende Isolation driftet. Erst dieses Resultate der US-Politik alarmieren auch die »Freunde« Amerikas. Sie befürchten eine Schwächung des atlantischen Monoliths - und davon ausgelöst eine europäische Emanzipation, die es zu verhindern gilt. Sie wünschen sich einen »besseren« USA-Hegemonismus - so wie sich viele in Osteuropa nach dem besseren, dem menschlicheren Sozialismus sehnten.
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