Die erweiterte Autonomie der Schulen bildet seit einigen Jahren einen Schwerpunkt der bildungspolitischen Diskussion. Das Schlagwort der Schulautonomie ist schillernd. Darunter werden so unterschiedliche Inhalte wie die Forderung nach mehr pädagogischen Gestaltungsmöglichkeiten oder die Einführung eines marktgesteuerten Bildungssystems verhandelt. Nicht zuletzt aus dieser Unschärfe des Begriffs resultieren die konträren Erwartungen, die mit einer autonomen Schule verbunden werden: Für die einen ist sie die Lösung aller Schulprobleme, für die anderen das Ende der Chancengleichheit im Bildungssystem.
Während seit den späten sechziger Jahren die fortschrittlicheren Lehrerverbände mehr Autonomie forderten, um die Schulen demokratischer zu gestalten, geht die Initiative inzwischen vorrangig von den Vertretern der Bildungsadministration aus. Das Motto lautet nicht länger: mehr Demokratie, sondern hat sich in den Ruf nach mehr Effizienz verwandelt.
Die Befürworter der Schulautonomie versprechen sich geradezu eine Explosion von kreativem Potential, wenn die Einzelschule weniger Vorgaben der Kultusbehörden erfüllen muß. An Stelle der Lenkung von oben soll eine Selbststeuerung eingeführt und die Finanzmittel teilweise von den Schulen - im Rahmen von Globalhaushalten - selbst verwaltet werden. Das Kernstück der Konzepte einer autonomen Schule bildet das Schulprofil, das von der Schulleitung und dem Kollegium unter Einbeziehung der Eltern und Schüler entwickelt wird. An dem Schulprofil als pädagogischem Leitbild orientieren sich beispielsweise die Gestaltung des Curriculums, die Unterrichtsorganisation oder die Umgliederung von Fächern in Lernbereiche. Lehrerinnen und Lehrer sollen als Team arbeiten, allen Beteiligten soll die Identifika tion mit ihrer Schule ermöglicht werden. Die Schulaufsicht verlagert ihren Aufgabenbereich dementsprechend von der direkten Einflußnahme zu dem einer Evaluationsinstanz.
Derartige Autonomiekonzepte reagieren einerseits auf empirische Befunde, die den Lehrenden einen zentralen Einfluß auf die Qualität von Bildung bescheinigen, andererseits tragen sie den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung, in deren Folge sich die Einzelschule von einer reinen Unterrichtsschule zu einem Lebens- und Lernort wandeln soll.
Die Kritiker der Schulautonomie vermuten und befürchten, daß mit den neuen Konzeptionen lediglich Einsparungen kaschiert werden sollen. Vor allem die Lehrerschaft steht dem Thema zwiespältig gegenüber, da aus der geplanten Schulautonomie zusätzliche Arbeitsbelastungen resultieren würde. Die Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse wird als gefährdet angesehen, wenn die Schulen vielfältiger werden. Und die Profilbildung könnte von den Lehrern verlangen, ihre Rolle als Einzelkämpfer aufzugeben.
Mißtrauen erweckt auch die euphorische Übernahme eines betriebswirtschaftlichen Vokabulars durch einige Protagonisten der Autonomiedebatte: die Rede ist von »neuesten Managementtechniken«. Controlling, re-engineering und lean-management werden als geeignetes Mittel zur Entbürokratisierung propagiert. Da diese rhetorischen Versatzstücke bisher immer dann anzutreffen waren, wenn im Zuge der Standortdebatte wieder ein Teil des Sozialstaats geopfert wurde, ist der Verdacht berechtigt, daß nun - nach den Systemen der sozialen Sicherung und der Gesundheitsvorsorge - das Bildungssystem mittels der Schulautonomie »verschlankt« werden soll. Insbesondere Teile derjenigen, die seit den späten sechziger Jahren für eine Demokratisierung der Schulen eintraten, interpretieren sämtliche Konzepte der Schulautonomie inzwischen ausschließlich als neuen Auswuchs neoliberaler oder neokonservativer Ideologie.
Mit diesem Verdikt geht aber auch der Blick auf die Chancen einer selbstständigeren Schule verloren. Immerhin gibt es Indizien dafür, daß das Projekt Schulautonomie, das schon in Bremen, Hamburg und Hessen und inzwischen auch in weiteren Bundesländern in unterschiedlichen Ausformungen umgesetzt oder projektiert worden ist, durchaus positive pädagogische Effekte hervorbringen kann, auch wenn die weitgesteckten Zielvorstellungen nicht eingelöst wurden und die derzeitige Gestalt der Autonomiekonzepte kaum einen Anstoß hin zu mehr Partizipa tion der Beteiligten verspricht, der über die bestehenden pseudodemokratischen Gremienstrukturen hinausweist. Doch der Vorwurf, es handele sich - aufgrund der Verlagerung von der Detail- auf die Rahmenplanung - um einen Rückzug des Staates aus seiner Verantwortlichkeit für die Bildung, deckt sich nicht mit der realen Entwicklung.
Allerdings weist eine Konzeption von Schulautonomie, die nicht nur die Ausweitung des Gestaltungsspielraums einer Einzelschule meint, sondern auch die Konkurrenz zwischen den Schulen impliziert, eine völlig andere Qualität auf: Sobald die freie Schulwahl durch die Aufhebung der Schuleinzugsbezirke eingeführt würde, sobald Drittmittel eingeworben werden könnten und die Schulen die Möglichkeit erhielten Schüler abzulehnen, wäre ein marktgesteuertes Bildungssystem etabliert.
Ein Blick auf die OECD-Länder, in denen die freie Schulwahl in unterschiedlichsten Formen praktiziert wird, zeigt, daß sich in diesen Ländern die soziale Segregation verstärkt: Insbesondere in den angelsächsischen Staaten werden Schulen in sozialen Brennpunkten abgehängt, in einkommensstarken Gegenden bilden sich Qualitätsschulen heraus. Mit der freien Schulwahl würde die Selektivität des Bildungssystems weiter erhöht werden und die Integration von Behinderten oder ethnischen Gruppen erschwert oder unmöglich gemacht, wenn deren Aufnahme nicht mit der »corporate identity« einer Schule vereinbar oder »zu kostenintensiv« wäre. Und wenn der Markt angeblich dafür sorgt, daß schlechte Schulen verschwinden, was ist mit den Schülern, die in den Jahren vor dem Verschwinden diese Schule besuchen? Wie soll es in ländlichen Gebieten eine Konkurrenz der Schulen geben? Und wer garantiert, daß die Eltern die beste Schule wählen und nicht diejenige, die über einen hohen Werbeetat verfügt oder hervorragende Noten verspricht ohne die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler im Blick zu haben? Daß neben dem Sachverhalt des Staatsversagens auch der des Marktversagens existiert, scheint den Propheten eines Bildungsmarktes nicht geläufig zu sein.
Es zeugt von der Verzweiflung einiger Bildungstheoretiker, daß sich inzwischen selbst Pädagogen von einem Wettbewerb zwischen den Schulen einen heilsamen Schock für das Bildungssystem versprechen. Billigend in Kauf genommen wird dabei, daß der Aspekt der Chancengleichheit in einem marktgesteuerten Bildungssystem auf der Strecke bleibt.
Mit dem Verweis auf die Studien Pierre Bourdieus und auf den Befund, daß das bisherige Schulsystem es nicht geschafft habe, die soziale Ungleichheit einzudämmen, da die Elitenreproduktion außerhalb der Schule stattfände (Rainer Fischbach im Freitag 8/99), wird übergangen, daß das bisherige staatliche Schulsystem doch bedeutend egalitärer ist als die übrige Gesellschaft. Trotz aller Mängel erhöht das bisherige Bildungssystem die Durchlässigkeit der sozialen Schichten. Die Antwort auf die Schwächen der Schule bei der Verwirklichung von Chancengleichheit kann nicht darin bestehen, jeden egalitären Anspruch aufzugeben und sich auf die Seite der neuen Apologeten der Elitenbildung zu schlagen. Die Antwort muß statt dessen lauten, diejenigen Schü ler, die weniger Unterstützung von ihren Eltern erfahren, gezielt zu fördern, um das Gebot der Chancengleichheit zumindest teilweise einzulösen.
Die Ambivalenz der Schulautonomie ergibt sich vor allem aus der Frage, ob das Projekt Autonomie von einem marktgesteuerten Bildungssystem zu trennen ist. Der Verdacht liegt nahe, daß die Profilbildung und die Selbstverwaltungstrukturen der Schulen lediglich der erste Schritt auf einem Weg sind, an dessen Ende die Schulen in ein Marktsystem entlassen werden. Bei einer derartigen Entwicklung wären zwar einige verfassungsrechtliche Hürden zu überwinden. Doch die Teilnehmer an der Debatte über die Schulautonomie müssen sich bewußt sein, daß ihre Diskussionsbeiträge für eine Einführung des marktgesteuerten Schulsystems instrumentalisiert werden können.
Um der Gefahr einer Auslieferung an den Markt zu begegnen, sollte eine klare Grenzziehung zwischen den unterschiedlichen Inhalten und Zielvorstellungen von Schulautonomie versucht werden: Wenn Schulautonomie bedeuten kann, der Pädagogik an den Schulen mehr Gestaltungsspielraum einzuräumen, dürfte dieser Ansatz nicht unter dem Negativzeichen des Neoliberalismus verhandelt werden. Denn so würde eine Chance auf eine bessere Schule für alle vertan. Wenn sich hinter dem Schlagwort Schulautonomie jedoch hauptsächlich die Zielvorstellung eines marktgesteuerten Bildungssystems verbirgt, müssen dessen berechenbare Folgen aufgedeckt werden: die zunehmende Desintegration. Die sich weiter öffnende Schere zwischen Eliten und Verlierern. Der Abschied vom Anspruch auf Chancengleichheit.
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