Beantworte die verdammte Frage!“, schreit einer laut aus dem Publikum, als Boris Johnson bei einer Wahlveranstaltung wieder einmal versucht, sich um eine Antwort zu drücken. Der Kandidat zieht die Augenbrauen hoch und wirkt, als würde er gleich die Fassung verlieren. Denn so etwas ist er nicht gewohnt: Johnson wird noch immer gemocht, obwohl mittlerweile allen klar sein muss, dass der Mann, der mit großer Wahrscheinlichkeit nächste Woche Premierminister wird, unehrlich, unseriös und von der Politik überfordert ist.
Die Kampagne um den Tory-Vorsitz – und damit den Regierungssitz – hat reichlich Belege geliefert, die das untermauern. Die Wahlkampfauftritte sind die typische Boris-Show: unterhaltsam, aber denkbar leer an Inhalten. Schwierigen Fragen weicht der Kandidat aus, wenn möglich mit einem Witz; und wenn er sich nicht um eine Antwort drücken kann, dann verfällt er auf beeindruckende Behauptungen, die sich jedoch bei näherem Hinschauen als kaum mehr als Fantasiegebilde herausstellen.
Tories erwarten das Chaos
Im Wahlkampf geht es darum, wer rhetorisch besser rüberkommt, wer die Vorzüge des EU-Austritts und die Größe Britanniens eingehender beschwört und wer die Leute besser zum Lachen bringt. Das kann Johnson ganz gut, auf jeden Fall besser als sein Rivale Jeremy Hunt, und deshalb wird er wohl nächste Woche in die Downing Street einziehen. Die Kandidaten müssen schließlich nicht die Mehrheit der 45 Millionen Wähler für sich gewinnen, sondern lediglich 160.000 Tories – und die sind überwiegend weiß, alt, männlich und Brexit-begeistert.
Aber danach werden die Probleme für Johnson erst beginnen. Sein Brexit-Plan läuft darauf hinaus, erneut mit der EU zu verhandeln und Theresa Mays verhassten Deal so anzupassen, dass er dem harten Kern der EU-Skeptiker genehm ist. Nur hat die EU mehrmals signalisiert, dass sie dazu auf keinen Fall bereit sei. Der No-Deal-Brexit, das weiß auch Johnson, ist ein erhebliches wirtschaftliches Risiko, und zudem sucht das überwiegend EU-freundliche Parlament nach Möglichkeiten, einen solchen Ausgang zu blockieren. Wenn Johnson also mit seinen Verhandlungen scheitert und das Land auf einen chaotischen Brexit zusteuert, ist die ganz große Regierungskrise da. Neuwahlen wären die Notlösung.
Ein Bericht der Financial Times zitiert mehrere konservative MPs, die sagen, dass die Partei sich auf genau dieses Szenario vorbereitet. Wenn man sich die Rhetorik Johnsons und Hunts während des Wahlkampfs anhört, scheint dies plausibel: Beide nehmen regelmäßig die Opposition aufs Korn und beschreiben eine mögliche Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn als nationale Katastrophe, die es unter allen Umständen zu verhindern gilt. Auf dem „gefährlichen Marxisten“ und seiner angeblichen Schwäche für Enteignungen wird fast so obsessiv herumgeritten wie auf dem Brexit.
Auch Labour scheint sich für eine vorgezogene Neuwahl bereit zu machen. Zumindest könnte das ein Grund dafür sein, dass die Opposition auf eine neue Brexit-Politik eingeschwenkt ist. Seit Monaten nähert sich die Parteiführung langsam und sachte einem zweiten Referendum an. Vergangene Woche schließlich hat sie sich zu der Position durchgerungen, dass jeder Deal dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden muss – und dass sich Labour für „Remain“ starkmachen werde. Dies geschah im Einvernehmen mit den größten Gewerkschaften und auf erheblichen Druck aus der proeuropäischen Parteibasis.
Der Schritt erschien in den vergangenen Wochen zunehmend unvermeidlich. Labour schnitt in den Lokal- und Europawahlen schlecht ab und verlor Stimmen sowohl an die Brexit-Partei als auch an die EU-freundlichen Grünen und Liberaldemokraten: Die Wankelmütigkeit von Labour machte weder Leave- noch Remain-Wähler glücklich. Zudem ist der Brexit immer mehr zu einem rein rechtskonservativen Projekt geworden. Linke Argumente gegen die EU haben es immer schwerer, gegen den Klamauk von Nigel Farage und Co. anzukommen.
Vor allem ist die Labour-Basis, die unter dem Vorsitz von Jeremy Corbyn auf eine halbe Million Mitglieder gewachsen ist, überwältigend proeuropäisch eingestellt. Diese Parteigänger waren es, die Labour in den Wahlen von 2017 allen Voraussagen zum Trotz zu einem solchen Triumph geführt haben. Ohne diese Graswurzelbewegung, die aktiv Wahlkampf betreibt, Demonstrationen und Kundgebungen organisiert, ist der „Corbynism“ nichts. Damit sich diese Aktivisten enthusiastisch in den Wahlkampf stürzen, muss Labour eine Brexit-Politik vertreten, der sich die Basis anschließen kann.
Suspekte Promis
Dennoch ist die Remain-Position nicht ohne Risiko. Schon jetzt lockt die Brexit-Partei die Wählerinnen und Wähler mit dem Argument, dass alles andere als die sture Umsetzung des Entscheids von 2016 einer Gräueltat gegen die Demokratie gleichkommt. In den Leave-Gebieten, besonders in den Labour-Hochburgen im Norden Englands, wird sie punkten können, indem sie die Arbeiterpartei zur antidemokratischen Remain-Anhängerin erklärt.
Auch sind die lautesten EU-Befürworter Prominente aus der Mitte des Establishments; sie sind dermaßen unbeliebt bei der Bevölkerung, dass jede Sache, der sie sich verschreiben, in den Augen der Wähler automatisch suspekt erscheint – allen voran sind dies diskreditierte Politiker wie der ehemalige Premierminister Tony Blair und sein Kommunikationschef Alastair Campbell.
Labour als Remain-Partei wird nur funktionieren, wenn sie diese Leute aufs Abstellgleis verbannt – und wenn die Aktivisten wieder mobilmachen. Sie müssten in die Kommunen gehen, besonders in den Midlands und im Norden Englands, wo das Brexit-Votum stark war, und den Wählern erklären, was eine Labour Regierung tun würde – wie sie die Wohnungsnot lindern, bessere Jobs schaffen, das soziale Netz wiederaufbauen und für Investitionen sorgen würde. Hauptsache, kein Zurück zu der Zeit vor dem EU-Referendum.
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