In ungefähr 75 Städten der Bundesrepublik wird regelmäßig Oper gespielt. Wenn es in diesem Land irgend etwas gibt, das wirklich Weltspitze genannt werden darf, ohne dass ein anständiger Deutscher gleich erbleichen müsste, dann ist es die Theaterlandschaft, jenes herrliche Erbe der Kleinstaaterei. Aber mit diesem Reichtum könnte es zukünftig vorbei sein. Was Pierre Boulez mit seiner provokanten Parole "Sprengt die Opernhäuser in die Luft!" und seine Mitachtundsechziger damals nicht schafften, könnten die Kämmerer unserer Kommunen erreichen. Jedenfalls verzeichnen sie die ersten Erfolge bei der Verschleuderung dieses kulturellen Kapitals: Berlin, ansonsten um metropolitanen Größenwahn nicht verlegen, meint, sich drei eigenständige Opernhäuser nicht mehr leisten zu können. In Würzburg und Rostock wurde ernsthaft diskutiert Dreispartenhäuser komplett dicht zu machen. Vielen Theatern steht finanziell das Wasser am Hals, oder sie werden - wie in Frankfurt, das in den achtziger Jahren das spannendste Musiktheater des Planeten hatte - in die Belanglosigkeit gespart.
Letztlich sind es natürlich nicht banausische Kämmerer, die die Zukunft unserer Theater in Frage stellen, sondern die kommunalen "Sparzwänge", wie man die neoliberale Umverteilung von den öffentlichen zu den privaten Händen zu umschreiben pflegt. In dieser Hinsicht teilt die Oper das Schicksal von Kindergärten, Drogenbekämpfungsprogrammen, Schulen und anderen nützlichen Dingen, die ebenfalls immer stärker unterfinanziert sind, obwohl dieses Land - schaut man auf das Wachstum des Bruttosozialprodukts - unentwegt reicher wird.
Unterfinanziert ist natürlich auch die sogenannte freie Kultur. Die politische Ökonomie der Kulturfinanzierung in Zeiten des Neoliberalismus hat dazu geführt, dass das Verhältnis von freier Szene zum Staats- und Stadttheater, das einmal als ästhetische und politische Herausforderung gedacht war, auf einen Verteilungskampf um Staatsknete heruntergekommen ist. So wie auf anderen gesellschaftlichen Feldern Ausländer gegen Deutsche, Alte gegen Junge, Männer gegen Frauen gehetzt werden, so machen sich alternatives Kulturzentrum und Opernhaus gegenseitig fertig. Man macht sich damit nicht nur zum nützlichen Idioten des Neoliberalismus. Das Ausspielen von freier und Soziokultur gegen die Oper zeugt auch von ähnlich viel Kunstsinnigkeit, wie Lyrik dem Roman entgegenzustellen, oder das Streichquartett der Symphonie.
Das Ressentiment gegen die Oper wird freilich durch die ästhetische Renaissance des Genres, wie sie der Einzug des Regietheaters auf der Opernbühne in den letzten 20 Jahren bewirkte, vollends gegenstandslos. Mit dem Abschied von der Optik des muffigen Kostümschinkens und des Rampensingens kommt Kunst jetzt nicht nur aus dem Orchestergraben und den Sängerkehlen, sondern findet auch in Inszenierung und Bühnenbild statt. Oper wird damit auf eine Weise multimedial, die auch noch die raffinierteste Website alt aussehen lässt. Als "Kraftwerk der Gefühle" (Alexander Kluge), als Schule der Sinne, die hören und sehen lehrt und als Fitnesstraining für den Verstand - Denken macht Spaß! - ist das Musiktheater eine unschätzbare Quelle von Kreativität, Phantasie und Innovation. Wenn die Finanzminister und Kämmerer den Kulturhaushalt weniger mit betriebswirtschaftlicher Kurzsichtigkeit, sondern unter volkswirtschaftlichem Weitblick betrachteten, würden sie diese Produktivkraft nicht verkommen lassen.
Die Skandinavier haben dies bereits begriffen. Sie sind nicht nur Weltspitze bei der PC-Dichte - Schweden liegt hier noch vor den USA - und bei der Schlüsseltechnologie Mobiltelefon (Nokia), sondern sie bauen oder planen neue Opernhäuser, so in Helsinki, Göteborg, Oslo und Kopenhagen. Wenn die Rede von Innovation, Zukunftsfähigkeit und Wissensgesellschaft mehr ist, als modische Phrase, dann wäre die Verbindung von High Tech und Kunst ein - pardon - Standortvorteil.
Hinzu kommt, dass die traditionelle soziale Basis der Oper erodiert. Gott sei Dank! Als Institution, in der ein bildungsbürgerliches Publikum sich selbst bespiegelte und nach außen hin repräsentierte, ist die Oper mit dem Verschwinden dieses Bildungsbürgertums obsolet geworden. Gerade in diesem so häufig beklagten Umstand liegt eine Chance. Der Mühlsteine ihrer alten sozialen Basis ledig, könnte die Oper jetzt frei von Abo-System und Frackzwang neue Publikumsschichten erreichen und so neues, emanzipatorisches Potenzial entfalten.
Außerdem ist Oper politisch, wenn auch nicht im Sinne von vordergründigem Agitprop. Als Institution, die den herrschenden Eliten traditionell besonders lieb und entsprechend teuer war, ist sie natürlich per se ein politisches Unternehmen. Daher auch das Misstrauen, das ihr von links meist entgegenschlug. Aber das spricht nicht gegen die Oper als Kunstgattung. Champagner ist nicht automatisch böse, nur weil er das Lieblingsgetränk reicher Leute ist. Im Gegenteil: soweit Politisches und Gesellschaftliches in der Oper reflektiert sind, gehört dies - mit wenigen Ausnahmen - zu jenem emanzipatorischen Wärmestrom der Geschichte, von dem der Marxist und Opernkenner Ernst Bloch in seinem "Prinzip Hoffnung" sprach. Man braucht zum Beleg dieser These keineswegs auf so extreme Beispiele zu rekurrieren, wie die "Stumme von Portici" von Auber, deren Gesellschaftskritik das Brüsseler Publikum am 25. August 1830 so mitriss, dass die Leute noch vor Ende der Vorstellung auf die Straße gingen, Barrikaden errichteten und damit die Lostrennung Belgiens von den als Unterdrücker empfundenen Holländern einleiteten. Meist ist das Politische in der Oper subtiler.
Reihenweise Beispiele dafür liefert Friedrich Dieckmann in seinem Buch Gespaltene Welt und ein liebendes Paar - Oper als Gleichnis. In 18 Einzelstudien beschäftigt sich Dieckmann mit scheinbar so disparaten Themen, wie die zeitgeschichtlichen Bezüge in der "Zauberflöte", die verschlungenen Wege deutscher Übersetzungen des "Don Giovanni" durch das Dickicht der Zensur, Interpretationen der weithin unbekannten Schubert-Opern "Fierrabras" und "Alfonso und Estrella". Hinzu kommen mehrere Aufsätze zu Wagner aus "linkswagnerianischer" Perspektive bis hin zu Analysen einzelner Inszenierungen, wie Ruth Berghaus´ Frankfurter "Parsifal" oder Chéreaus Bayreuther "Ring des Nibelungen." Doch in allen Einzeltexten spürt Dieckmann seinem Leitmotiv nach: dem Zusammenhang zwischen dem unglücklichen Bewusstsein der Opernfiguren von einer "gespaltenen Welt" und deren utopischer Überwindung.
Dieckmann deckt dabei mitunter verblüffende Zusammenhänge auf. Dass die Story der "Zauberflöte" eine Hommage an die Freimaurerei ist, die zu Mozarts Zeiten aufklärerisch und historisch progressiv war, ist inzwischen in jedem Programmheft nachzulesen. Dieckmann aber belegt darüber hinaus in vielen Details, wie sich im Libretto von Mozarts meistgespielter Oper die politischen Auseinandersetzungen zwischen der reformorientierten, aufgeklärten Fraktion des Absolutismus und deren konservativen Gegner spiegelt. Ein politisches Tendenzstück, dessen Hintergründe dem zeitgenössischen Publikum deutlich vor Augen standen. Äußerst spannend auch die Interpretation der Schubert-Opern auf dem Hintergrund der bleiernen Zeiten des Biedermeier, wobei bereits der Titel eines der beiden Ausätze zu diesem Thema Dieckmanns Botschaft auf den Begriff bringt: "Die Überlistung der Konterrevolution". Insgesamt ist dieses Buch des Berliner Publizisten und Bühnenfachmanns ein brillantes Beispiel dafür, welch enormes Vergnügen die intelligente Auseinandersetzung mit Musiktheater bereiten kann.
Während Dieckmann sich auf das 18. und 19. Jahrhundert konzentriert, geht es in dem von Udo Bermbach herausgegebenen Sammelband ausschließlich um die Oper des 20. Jahrhunderts. Die moderne Oper - zumindest nach Strauss - hat es nicht leicht. Auf Hörgewohnheiten konditioniert, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert haben, erfahren die meisten Zeitgenossen neue Musik als "schwer, unverständlich, verkopft" etcetera. Doch tut sich inzwischen auch hier einiges, wie die Erfolge der Opern von Philip Glass (Einstein on the Beach) oder der Publikumszuspruch für Nonos Intolleranza - zuletzt in Köln mit einem sehr direkten politischen Bezug auf die "Kinder statt Inder"-Partei - oder Lachenmanns Erfolg mit Das Mädchen mit den Schwefelhölzern in Hamburg zeigen. Es entsteht ein neues Publikum, das neugierig auf Neues ist, das Lust am Experiment hat und bereit ist, sich irritieren zu lassen. Bermbachs Buch kommt daher zur rechten Zeit.
Der umfangreiche Band versammelt 28 Autoren, darunter die Crème der deutschen Opernkritik, Musikologen und ausgewiesene Praktiker, wie den Intendanten der Stuttgarter Oper, Klaus Zehelein. Ein Beitrag des Komponisten Siegfried Matthus beschließt das Buch. In einem ersten Block werden die ästhetischen Grundströmungen des Musiktheaters von Richard Strauss bis heute auch für interessierte Laien nachvollziehbar herausgearbeitet. Eine zweite Abteilung stellt länderspezifische Entwicklungen in den USA, Italien, Frankreich, Skandinavien und in der damaligen UdSSR dar. Hervorzuheben ist hier der informative Beitrag von Sigrid Neef über die Oper der DDR. Jenseits politically ebenso korrekter wie simpler Schemata über die "Staatskunst" der DDR, kann Neef plausibel machen, wie im Sinne Heiner Müllers "Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen" Oper in der DDR Teil einer subversiven Gegenöffentlichkeit werden konnte.
Von Strauss über Schreker, Britten, Henze und Nono bis Hölszky werden insgesamt 12 bedeutende Komponisten des 20.Jahrhunderts vorgestellt. Als Einstieg in die Oper des 20. Jahrhunderts ein höchst empfehlenswertes Buch, auch wenn ein ärgerlicher Wermutstropfen nicht verschwiegen werden soll. Ausgerechnet der Beitrag "Oper im Dritten Reich" mutiert passagenweise zu einer platten Polemik gegen Adorno. Auch wenn der Frankfurter natürlich nicht unter Denkmalschutz steht: ihm vorzuwerfen, er legitimiere die Vorurteile eines "dumpfen deutschen Chauvinismus" und betreibe "Propagandatätigkeit für Schönberg", ist nicht nur sprachlich eine Entgleisung.
So erfreulich die neue Vitalität des Musiktheaters, so wenig sind aber auch der alte Typus des konservativen Opernfreunds und seine (Un)sitten von der Bildfläche verschwunden. Davon zeugt ein opulenter Bildband, der mit vielen Hochglanzfotos einen Streifzug durch 400 Jahre Operngeschichte macht. Über die ästhetische Substanz des Musiktheaters ist daraus wenig oder nur Klischeehaftes zu erfahren. Dafür umso mehr über Äußerlichkeiten, Klatsch und Tratsch über Fürsten, Sänger und Diven. Adorno hat mit seiner Typologie der Musikhörer dieses Phänomen mit dem köstlichen Bild von den "amerikanischen Komiteedamen der philharmonischen Konzerte" sehr treffend charakterisiert: der Bildungskonsument, der ohne wirkliches Verhältnis zur Sache "soviel wie möglich nur an Kenntnissen über Musik, zumal über Biographisches und über die Meriten von Interpreten anhortet, über die man stundenlang nichtig sich unterhält." Wenn etwa bahnbrechende Ereignisse der Operngeschichte, wie die Revolution der Opernästhetik durch Diaghilew zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit keinem Wort erwähnt werden, sehr wohl aber dessen Talent bei der Geldbeschaffung gewürdigt wird, so lässt dies darauf schließen, wes Geistes Kind der Autor ist. Sieht man von einigen Darstellungen historischer Bühnenbilder ab, tut es einem um die vielen Bäume leid, die für diesen teuren Prachtband in die Papiermühle mussten.
Friedrich Dieckmann:Gespaltene Welt und ein liebendes Paar - Oper als Gleichnis. Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1999, 500 S., 58,- DM.
Udo Bermbach (Hrsg.): Oper im 20. Jahrhundert - Entwicklungstendenzen und Komponisten, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2000, 686 S., 98,- DM.
Richard Somerset-Ward: Oper - ein Streifzug durch 400 Jahre Musiktheater. Mit einem Vorwort von Kiri Te Kanawa, Knesebeck-Verlag, München 1999, 304 S., 98,- DM.
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