Für ein paar Cent

Globalisierung Crowdworker sind unsichtbare Datenarbeiter des Internets. In Indien gehören sie zur neuen Mittelklasse, in Deutschland sind sie Selbstständige – und leben oft prekär
Ausgabe 15/2017
Vom Mindestlohn sind die deutschen Crowdworker meist sehr weit entfernt
Vom Mindestlohn sind die deutschen Crowdworker meist sehr weit entfernt

Illustration: Susann Massute für der Freitag

Die nächste Stufe der Globalisierung kann man in einem Großraumbüro in Kalkutta besichtigen. Hier klicken sich Inder im Minutentakt durch die Websites von Google, Facebook, Twitter, Ebay. Sie beschriften Bilder, beantworten Nutzeranfragen, sortieren Onlinekataloge. Sie sind die unsichtbaren Datenarbeiter des Internets. Sie machen Crowdworking – monotone Aufgaben, die westliche Firmen ins Netz auslagert haben.

An einem Mittwochnachmittag führt Lukas Biewald, Digitalunternehmer aus San Francisco, durch das Büro in Kalkutta. Biewald, ein Nerd mit Karohemd und Cordhosen, ist der Makler dieser Mikrojobs. Seine Plattform CrowdFlower bringt sie an rund fünf Millionen Menschen weltweit. Lokale Vertragspartner setzen voll aufs Crowdworking und ziehen dafür ganze Werkhallen hoch. Wie zum Beispiel die Klickbude des indischen Start-ups iMerit in Kalkutta, durch die Biewald gerade läuft.

Als er sein Start-up gründete, habe er zuerst an seine Mutter, eine Hausfrau, gedacht, erzählt er. Jeder sollte die Möglichkeit bekommen, vom digitalen Fortschritt zu profitieren, fand er. „Nicht nur in den USA, sondern überall. Ich wollte die Arbeit demokratisieren.“ Er spricht jetzt direkt zu den Indern. Zu sehen, was sie tun, sei sein Traum, sagt Biewald. „Ich könnte fast weinen.“ Seine Sätze sind voll von Weltverbesserungspathos. Er ist aber kein Philanthrop, er ist Geschäftsmann. Er wittert Profit: Die meisten Crowdworker gibt es – nach Amerika – in Indien. Die Angestellten bei iMerit erledigen bereits 15 Prozent aller Aufgaben auf CrowdFlower.

Dass Dienstleistungen aus englischsprachigen Ländern nach Indien ausgelagert werden, begann schon Anfang der 2000er Jahre. Die Digitalisierung hat es ermöglicht, Arbeiten am Computer und Callcenter-Dienste ans andere Ende der Welt zu verlagern. Aufgrund der Zeitverschiebung ließen sich so viele Arbeiten buchstäblich auch über Nacht erledigen. Was nun hinzukommt, ist, dass einzelne Mikrojobs auf Onlinebörsen gehandelt werden – und Crowdworker von verschiedenen Kontinenten um sie konkurrieren.

Worum es bei seiner Plattform geht, beschrieb Biewald einmal vor Unternehmern im Silicon Valley: „Mit dieser Technologie kannst du tatsächlich jemanden finden, bezahlst ihm einen winzigen Geldbetrag und wirst ihn dann los, wenn du ihn nicht mehr brauchst.“ Es ist das Prinzip hire and fire in Glasfasergeschwindigkeit.

7.000 Kilometer westlich von Kalkutta, in einer Braunschweiger Altbauwohnung, sitzt Jan Templiner vor seinem Laptop. Das Zimmer sieht aus wie ein buntes Lernparadies, die Wände orange gestrichen, Bücherregale an drei Seiten, in einer Ecke hängt ein Papagei-Bild. Drei Kinder wohnten hier einst, zwei sind schon ausgezogen.

Keine Tippfehler

Templiner scrollt sich durch eine Online-Aufgabe. Er soll kurze Texte erstellen, 160 bis 180 Wörter in maximal 240 Minuten. Dafür bekommt er drei Euro. Die Vorgaben sind rigide. Keine Tippfehler, keine Textblöcke kopieren. Alles muss für Suchmaschinen optimiert werden. In einem kurzen Artikel über eine Autowerkstatt muss Templiner die Wörter „Werkstatt“, „Kfz-Werkstätten“ und „Freie Kfz-Werkstätten“ unterbringen. „Das ist verrückt: Der Text wird dadurch völlig redundant“, sagt er.

Ein anonymer Korrektor, ebenfalls Teil der Crowd, prüft dann seinen Artikel. Senkt er den Daumen, geht Jan Templiner im schlimmsten Fall leer aus – und bekommt eine schlechte Bewertung. Bei anderen Aufträgen wird er nach drei Fehlern dauerhaft vom Projekt gesperrt. Ein Feedback gibt es nicht. „Da ist man völlig ausgeliefert.“

Jan Templiner, 36, und seine Frau Astrid, 57, sind seit zweieinhalb Jahren Crowdworker. Sie klicken und tippen bei Clickworker.de, checken Software bei Testbirds.de. Rund vier Stunden täglich, auch an Wochenenden und Feiertagen. Sie sagen, sie haben viel Spaß dabei, aber für die meisten Aufgaben sind sie überqualifiziert: Sie war Fremdsprachenkorrespondentin und Assistentin an der Uni, bis sie wegen chronischer Arthritis den Beruf aufgeben musste. Er hat einige Semester Musikwissenschaft studiert und dann als freier Softwareberater gearbeitet, bis auch ihn eine Krankheit lahmlegte. Fest anstellen wollte sie niemand mehr. Und sie möchten nicht beim Arbeitsamt betteln. Lieber verdienen sie ihren Lebensunterhalt im Internet.

Die Einnahmen liegen weit unterm Mindestlohn: Sieben Euro die Stunde, „tendenziell weniger“, sagt Jan Templiner. Das Geld reicht gerade so für eine freiwillige Krankenversicherung, nicht aber für die Arbeitslosen-, Unfall oder Rentenversicherung. Urlaubs- oder Krankentagegeld: Fehlanzeige.

Chance für Frauen

Wer sich mit Crowdwork beschäftigt, kann sehr gut die gegenläufigen Effekte der globalisierten Weltwirtschaft beobachten: In Deutschland leben Crowdworker prekär. In Indien gehören sie oftmals zu den Gutverdienern. Das kann man etwa in Metiabruz sehen, einem armen muslimischen Vorort von Kalkutta.

Manche Häuser hier haben weder Strom noch fließend Wasser. Das Start-up iMerit hat in dem Vorort eine Niederlassung. Das Unternehmen macht mit Crowdworking nicht nur Profit, sondern auch Sozialarbeit im Brennpunkt: Angestellt sind hier nur Frauen, insgesamt 160. Sie kommen teils aus patriarchalen Strukturen, manche dürfen nicht mal allein auf die Straße. Das Crowdworking macht sie frei – und unabhängig. iMerit will sie stärken: Eine NGO gibt jungen Mädchen Computerkurse, die Besten werden übernommen.

Shamina Khatoon, 24, trägt ein gelbes Kopftuch. Sie klickt sich gerade durch ihre Aufgabe: Daumen hoch, Daumen runter, Daumen und Zeigefinger zum Kreis geschlossen. Sie bringt einem Algorithmus bei, Mimik und Gestik zu erkennen. „Maschinenlernen“ heißt das. Draußen ruft der Muezzin. Mit vier, fünf Grafiken nimmt Khatoon 20 Cent ein. Auftraggeber ist eine Softwareschmiede für virtuelle Realität an der US-Westküste. Wie viel Khatoon genau verdient, sagt sie nicht. iMerit gibt das Monatsgehalt seiner Mitarbeiterinnen aber mit mindestens 8.000 Rupien an, umgerechnet 112 Euro.

Khatoon sagt, sie trage wesentlich zum Familieneinkommen bei. Sie findet ihre Arbeit bei iMerit „absolut fantastisch“. Noch lebt sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern in einer Zweizimmerwohnung. Bald will sie aber in etwas Eigenes ziehen.

Der Braunschweiger Jan Templiner verdient bei Testbirds.de etwa 100 Euro im Monat. Zwar liege der Stundensatz bei durchschnittlich zehn Euro, doch seien die Verdienstmöglichkeiten dadurch begrenzt, dass man zu Aufträgen eingeladen werden muss. Er bekommt nur etwa eine Mail pro Woche von der Plattform. Die Einnahmen schwanken sehr: Kam er im Februar auf 214 Euro bei Testbirds, waren es im März nur 41. Seine Frau Astrid sagt, sie fühle sich durch die digitale Arbeit „beschenkt“. Doch es stört sie, dass Crowdworker nicht mal einen rechtlichen Status haben. Beim Finanzamt schauen sie bei der Berufsbezeichnung ungläubig.

Die Gewerkschaft IG Metall nimmt sich des Themas seit längerem an. Sie hat die Initiative FairCrowdwork gegründet, bei der Nutzer ihre Auftraggeber bewerten können. Im Februar organisierte die Gewerkschaft mit Testbirds ein Seminar, zu dem auch das Ehepaar Templiner eingeladen wurde. Die beiden waren überrascht: Die meisten Crowdworker dort waren nicht Studenten, sondern Berufstätige, Informatiker und Ingenieure. Verdi schätzt, dass rund eine Million Deutsche haupt- oder nebenberuflich auf Plattformen arbeiten.

Eine wichtige Forderung der Gewerkschaftstagung: Die Onlinebörsen sollten ihren Crowdworkern Sozialversicherungen anbieten. Derartige Mindeststandards hatte eine internationale Gewerkschaftsallianz bereits im April 2016 gefordert, in der „Frankfurter Erklärung zu plattformbasierter Arbeit“. Passiert ist seither nichts. Der Code of Conduct, den acht deutsche Plattformen sowie der Deutsche Crowdsourcing Verband unterzeichnet haben, verpflichtet zwar alle zu „fairer Bezahlung“. Doch von Mindestlohn oder Sozialabgaben steht da nichts. Stattdessen der Satz: Die Kalkulation der Honorare erfolge „von Seiten der Plattformbetreiber nach bestem Wissen und Gewissen“.

Für viele Firmen, die Tätigkeiten ins Netz auslagern, ist es aber gerade der Reiz, Personalkosten zu sparen. Zerstört das Crowdworking also sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse? Ist das die Zukunft der Arbeit? Dagegen spricht, dass es insgesamt mehr Onlinearbeit gibt: Jeder Schuster, jeder Tischler will heutzutage seine eigene Website haben. Das Crowdworking bedient diese Nachfrage. Tatsächlich hat IG-Metall-Vorstand Robert Fuß bislang keine Belege, dass feste Jobs in Deutschland in die Crowd verlagert wurden. „Aber man kann das in der Zukunft natürlich nicht ausschließen.“ Weil der Einsatz von Plattformen nicht mitbestimmungspflichtig ist, erfahren viele Betriebsräte erst gar nicht davon.

Crowdworkerin Astrid Templiner schüttelt den Kopf: „Das liegt doch auf der Hand, dass wir anderen Leuten die Arbeit wegnehmen. Wir sind billiger.“ Zum Beispiel die Texter: „Früher musste doch auch jemand die Beschreibungen in Versandkatalogen verfassen. Das machen jetzt wir.“ Oder die Softwaretester: „Einige werden durch uns sicherlich arbeitslos.“ Festangestellte Redakteure und Lektoren etwa: „Für die sind wir eine Gefahr.“

Nach IG-Metall-Angaben haben schon zahlreiche DAX-Firmen die Outsourcing-Technologie ausprobiert – die Allianz, die Telekom, aber auch die Deutsche Bahn oder der Axel-Springer-Verlag. Der Autobauer BMW nutzt Crowdworking zwar im Bereich IT-Einkauf und Marketing, „aber nur in Einzelfällen“, wie eine Sprecherin betont. Das sei „kein gängiges Tool für uns“.

IG-Metaller Robert Fuß sieht in Crowdworking für Menschen in strukturschwachen Regionen daher durchaus eine Chance. „Wenn aber das Geschäftsmodell einer Verleihfirma ist, dass sie Lohn- und Sozialdumping betreibt, dann wollen wir das hier nicht.“

Zurück nach Indien. Der Mann, der noch billiger sein will als alle anderen, sitzt in einem Bürohaus in einem Vorort von Neu-Delhi. Rishabh Ladha, schwarzer Bart und Button-down-Hemd, will nicht mehr auf Leute wie Lukas Biewald aus dem Silicon Valley warten, sondern digitale Mikrojobs selbst nach Indien holen. Gemeinsam mit Geschäftsführer Apurv Agrawal gründete er das Start-up SquadRun, eine Handy-App fürs Crowdworking, die zahlreiche Arbeitsschritte bündelt und automatisiert.

Ladha sagt, die Plattform helfe westlichen Firmen, bis zu sechsmal effizienter zu sein. Zu den Auftraggebern gehören kalifornische Start-ups, ein schwedischer Onlinehändler oder die französische Beauty-Kette Sephora. Sein Start-up operiere „kosteneffizienter, skalierbarer, flexibler und billiger“. Er brüstet sich: „Für einen unserer E-Kunden konnten wir die Arbeit von zwei- bis dreihundert Leuten ersetzen.“ Google-Vizepräsident Rajan Anandan war begeistert – und investierte privat in das Start-up.

Mark Graham, Professor für Internet-Geografie in Oxford, ist überzeugt, dass noch viel mehr digitale Arbeit von den Industriestaaten in Schwellen- und Entwicklungsländer verlagert wird. „Nicht nur von West nach Ost, sondern auch von Nord nach Süd.“ Denn die Vernetzung schreite immer schneller voran: 2006 waren eine Milliarde Menschen online, 2016 schon dreieinhalb. „Bald werden es vier oder fünf Milliarden sein“, sagt Graham. Outsourcing werde da zum Kinderspiel. Während früher nur große Industrieunternehmen ihre Produktion aufwendig verlagern konnten, kann das heute ein einzelner Mensch mit einem Mausklick tun.

Die Taxi-App Uber hat dieses Prinzip zur Perfektion gebracht und fast alle Bereiche ins Netz ausgelagert. Crowdworker beschriften Objekte in Landschaftsbildern – Bäume, Leitplanken, Verkehrsschilder. Sie bringen dem Programm bei, mit menschlichen Augen zu sehen. Uber braucht diese Informationen, um Software für das selbstfahrende Auto zu entwickeln.

Auf Anfrage des Freitags äußert sich das Unternehmen aber nicht zu seinem Crowdworking-Konzept. „Medienauskünfte gehören nicht zu unserem Kerngeschäft“, entschuldigt sich der Pressesprecher.

Uber hat in Deutschland kaum Freunde. Die Taxifahrer fürchten die Verdrängung, der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht von „Ausbeutung“, die Städte Berlin und Hamburg haben das Sharing-Modell gerichtlich untersagt.

Der indische App-Unternehmer Rishabh Ladha dagegen findet: „Uber ist die sozialste Firma überhaupt. Sie hat für so viele Menschen Jobs geschaffen.“ Er will SquadRun deshalb nach dem Uber-Modell aufstellen – schlank, ohne Hierarchien, international. Die Top-Level-Domain ist .co, die Webadresse Kolumbiens. Gerade hat SquadRun ein Büro in San Francisco eröffnet. Registriert ist die Firma aber im Bundesstaat Delaware, der eine inneramerikanische Steueroase ist. „Deswegen sind wir eigentlich eine US-Firma“, freut sich Ladha.

Seit 2016 haben 75.000 Nutzer in Indien, Malaysia, Kenia, Uganda und den Philippinen seine App auf ihr Smartphone geladen. „Man braucht keine Non-Profit-Organisation, um etwas Soziales zu bewirken“, sagt Ladha. Er öffnet auf seinem Laptop ein Youtube-Video: Zu sehen ist eine Frau im geblümten Kleid auf einer Ledercouch. Sie erzählt, wie sie sieben Jahre Bankangestellte war, Zwillinge bekam, und nach vier Jahren Erziehungspause wieder Arbeit suchte – von zu Hause aus. So kam sie zum Crowdworking. „SquadRun“, sagt sie lächelnd, „hat mir wieder einen Sinn gegeben. Ich bin viel selbstbewusster geworden.“

Im echten Leben ist die 37-Jährige sogar noch euphorischer. Sie heißt Shilpa Gopinathan und sitzt in einem Café im Zentrum Delhis. Sie scrollt durch ihr Handy. Sieben Aufgaben sind im Moment zu vergeben, ein gelber Punkt rechts zeigt an, wie viel jeweils zu holen ist: eine Adresse aktualisieren für umgerechnet 10 Cent, ein Produkt bewerten für 7 Cent, ein Marktforschungsanruf für 17 Cent. Aber am liebsten macht sie Modeaufgaben, Kleidungsstücke nach Kategorien sortieren: Strandmode? Unterwäsche? Western Style oder indisches Ethno-Outfit? Sie tippt, wischt, alles mit dem Daumen, auf dem Handy.

Nirgendwo sind Crowdworker so billig und motiviert wie in Indien. Werden sie bald die im Westen ersetzen? Das Ehepaar Templiner glaubt das nicht. Sie sehen in den Indern keine Bedrohung. „Für Nicht-Muttersprachler ist es schwer, deutsche Texte zu schreiben“, sagt Jan Templiner. Astrid Templiner ergänzt, es sei doch schön, dass das Internet grenzüberschreitende Arbeit möglich gemacht habe. Andererseits: Manches, was international angeboten werde, sei miserabel bezahlt. Zum Beispiel auf der Microsoft-Plattform Universal Human Relevance System: „Da gibt es für eine Aufgabe zum Teil weniger als einen Cent“, sagt sie. „Das ist nur was für die ganz Benachteiligten der Welt.“ Für Digitalarbeiter in Billiglohnländern, zum Beispiel.

Eine Art Gewerkschaft

Längst nicht alle Crowdworker im Westen sind so gelassen. In Berlin, Mitte Januar, am Rande einer Verdi-Digitaltagung, spricht die Kanadierin Kristy Milland über ihre Erfahrungen mit der ältesten Crowdworking-Plattform der Welt: dem Mechanical Turk von Amazon. MTurk und CrowdFlower beherrschen zusammen rund 80 Prozent des Crowdworking-Marktes, schätzte die Weltbank 2015. Jährliche Bruttoeinnahmen: 120 Millionen Dollar.

Milland klickte sich elf Jahre lang durch die Aufgaben des Onlinekaufhauses. Inzwischen ist sie eine gefragte Rednerin. Sie gründete das Forum TurkerNation.com, die vermutlich erste globale Community für Crowdworker. Milland wollte, dass sich die Amazon-Arbeiter hier austauschen und gegenseitig helfen. Stattdessen gärte der Hass. Milland fand Einträge, die sich gezielt gegen Inder richteten: „Geht nach Hause“, „Verschwindet von unserer Plattform“, hieß es da, oder: „Wir sind Amerikaner.“ Und: „Ihr seid furchtbar.“ „Das meiste war pure Diskriminierung“, sagt Milland. „Das sind Leute, die Angst vorm Outsourcing haben und sehen, dass die Lebenshaltungskosten woanders viel niedriger sind.“

Milland sagt, bis 2012 stellten Inder auf MTurk den Großteil der Crowdworker. Dann stoppte Amazon das Recruitment aus dem Ausland. Jetzt seien die meisten Turker Amerikaner. Ob das der Druck der Community war? Milland sagt, möglicherweise glaubten US-Auftraggeber auch, „dass Inder schlechter arbeiten“.

Das deckt sich mit einer Weltbank-Studie aus dem Jahr 2015. Demnach bevorzugen viele US-Firmen amerikanische Auftragnehmer, weil diese hohe Qualität lieferten. Die Befragten könnten sich aber vorstellen, ausländische Crowdworker anzuheuern, wenn sie ähnliche Leistungen erbringen.

Als Microsoft-Forscher 2010 Inder aus ärmeren Bevölkerungsschichten und ohne Computerkenntnisse vor Amazons Mechanical Turk setzten, scheiterten alle Testpersonen an einfachsten Aufgaben, wie ein Viereck um ein Bild zu ziehen. Das lag zum Teil an mangelnden Technik- und Englischkenntnissen. Als Wissenschaftler dieselben Aufgaben in eine Lokalsprache übersetzten und verständlichere Anleitungen schrieben, stieg die Erfolgsquote auf 66 Prozent.

Deutsche Grillgeräte

Die indische Regierung setzt daher auf IT- und Sprach-Bildung – und unterstützt das digitale Outsourcing mit massiven Subventionen. Manche Bundesstaaten legen noch etwas obendrauf, wenn die Jobs Menschen in besonders benachteiligten Gegenden zugutekommen. Als das Start-up Indivillage eine Crowdworking-Halle an einem Feldrand im südindischen Andhra Pradesh plante, legten die Behörden binnen kürzester Zeit Breitbandkabel aus. 86 Mitarbeiter, die früher Äcker bestellten, graben sich heute durch Datenreihen. Indivillage habe einer milliardenschweren E-Commerce-Firma Kosteneinsparungen von 18 Prozent ermöglicht, sagt Managerin Chira Amin.

Der Gesellschaft gibt das Unternehmen auch etwas zurück: Indivillage hat die Gewinne in Trinkwasserleitungen und Schulen investiert. 4.500 Menschen haben jetzt sauberes Wasser, 300 Schüler kostenfreie Bildung. Jetzt will die Firma expandieren. Im nächsten halben Jahr sollen zwei weitere Outsourcing-Fabriken auf dem Land eröffnen – danach gern noch mehr.

Inzwischen schaffen es die Crowdworker bei der Firma iMerit in Kalkutta sogar, nicht nur Aufgaben auf Englisch zu bearbeiten, sondern auch Produkte mit deutschsprachigen Texten zu sortieren. Projektmanagerin Sanghamitra Chanda zeigt eine Übung. Es geht darum, in den Angebotslisten von Ebay Deutschland Dubletten zu finden. Eine Folie zeigt zwei Grillgeräte, links silberfarben, rechts schwarz, dazu auf Deutsch der Titel: „Edelstahl Gasgrill“, weiter unten die Besonderheiten: „Abdeckhaube“, „Arbeitsplatte“, „Warmhalterost“. Chanda erklärt, dass Mitarbeiter die Bilder vergleichen oder ein Onlinewörterbuch benutzen können. Sie tippt auf den Bildschirm: „Es handelt sich um zwei verschiedene Ausführungen desselben Modells.“

Für diese Aufgabe muss man nicht einmal Deutsch können. Rishabh Ladha, der SquadRun-Manager, sieht für die Branche Potenzial – auch in Deutschland. Er möchte seine App bald auch auf Deutsch anbieten. Ob dann auch festangestellte Computerarbeiter um ihren Job fürchten müssen? Noch sieht es nicht danach aus. Aber es entsteht ein neues, digitales Prekariat, ohne Arbeitsverträge, ohne Sozialleistungen. Diese Menschen sind das Kapital der Plattformbetreiber und ihrer Auftraggeber.

Der Amerikaner Lukas Biewald hat für den Arbeiter der Zukunft auch einen Namen. In Kalkutta, vor Managern und Gründern von iMerit, malt er seinen Begriff mit Filzstift auf ein Whiteboard: „Human in the loop“. Der Mensch in der Schleife.

Petra Sorge arbeitet als freie Journalistin in Berlin oft zu Themen der Digitalisierung. Die Recherche in Indien wurde von der Robert-Bosch-Stiftung finanziell unterstützt

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