Mai 1999: Vor lauter Müdigkeit fallen dem Modell die Augen zu. Wie ein Embryo liegt es zusammengekauert auf dem Podest. Eine junge Frau in knappen blauen Boxershorts und Bustier. Abgemagert bis auf die Knochen - das Spiel der Haut auf dem menschlichen Gerüst fordert die drei Studentinnen im Zeichensaal der Kunstakademie von Tirana heraus. Auch das schüttere Haar des Häufchens Schwäche. Kaum noch Zähne finden sie in dem offen stehenden Mund. Und im blassen Gesicht verlaufen Sorgenfalten kreuz und quer wie das Straßennetz auf einer Landkarte. Von ihrem Modell stundenlanges Hocken oder gar Stehen auf den dürren Beinen zu erwarten, käme dem Versuch gleich, eine Marionette allein auf ihre Füße stellen zu wollen. Dieses Modell ist die leibhaftige Personifizierung der Kunst Albaniens: Sie liegt am Boden.
Edi Hila möchte den Saal schnell wieder verlassen. Eigentlich ist der 50jährige Maler hier Professor und die drei Kunststudentinnen seine Schülerinnen, aber er ist es Leid. Das ausgehungerte Wesen, nach dem er zeichnen lassen muss. Den Putz, der überall in dem gelben, klassischen Akademiebau am südlichen Ende des Tiraner Boulevards von den Wänden blättert. Die engen, düsteren Räume hier im Untergeschoss, wo die Bildende Kunst untergebracht ist. Wo sich an den ersten heißen Tagen eine Handvoll Nachwuchskünstler mit Modellzeichnem und Freskenbildern nach Michelangelos römischer Sixtina beschäftigen. Und der sich penetrant aus den Toiletten im ganzen Trakt verbreitende Geruch ist dem stets aufrecht gehenden kleinen Mann peinlich: »Es gibt leider nur dreimal am Tag Wasser.« Entschuldigend schließt er die Tür zum WC, die sich gleich wieder von selbst öffnet.
Der Professor hat gerade eine Sitzung mit der Direktion hinter sich und ist erregt: »Die denken, mit ein paar Computern ist uns geholfen. Aber es fehlt an allem, an Material, die Raumsituationen sind schlecht, und vor allem das Denken bei denen da oben ist völlig beschränkt: Kunst zählt nichts, ist brotlos.« Wo andere Menschen ein sympathisches Grübchen sitzen haben, thront bei Edi Hila eine auffällige knubbelige Warze auf der linken Wange neben der knolligen Nase. Wenn er, wie so oft, den Kopf nachdenklich zur Seite legt, signalisiert sie über den Stoppeln des weißgrauen Vollbarts Alarm wie ein Feuermelder. Manchmal erinnert der Maler einen auch an Picasso, vor allem wenn er wie der Spanier ein ausgeblichenes weiß-schwarz-gestreiftes T-Shirt trägt. Oder sich die halbmondartigen Furchen um die Mundwinkel zu Gräben vertiefen, und malende Hände seine Worte begleiten: »Mit Jura und Betriebswirtschaft kann man in Albanien Geld verdienen, oder dem Drogenhandel, aber nicht mit Kunst. Zudem gibt es viele Dilettanten hier, aber nur vier, fünf wirklich ernstzunehmende Künstler.« Dass er einer von ihnen ist, versteht sich von selbst. Und die echten jungen Talente »merken bald, dass sie hier nicht weiterkommen. Entweder gehen sie ins Ausland oder geben auf«.
Nachdem Albanien 1990 nach 45 Jahren kommunistischer Diktatur demokratische Wege einschlug, hat sich daran nichts geändert. Auch Edis Kinder, die 22jährige Tochter Silva und der 26jährige Sohn Klodi, haben die Diaspora gewählt, um in Deutschland und Dänemark ihren künstlerischen Neigungen nachzugehen.Vor allem seit dem von der Regierung verursachten Finanzcrash 1997, der fast das gesamte Sparkapital der Bevölkerung verschlang und Albanien in einen sechsmonatigen Bürgerkrieg und zurück in die Dritte Welt stürzte, ist vom Aufbruch in die Freiheit und Bürgerrechte nur wenig geblieben. Fast jeder Haushalt verfügt heute über mindestens eine Kalaschnikow und verteidigt Hab und Gut notfalls selbst, die albanische Mafia hat ihre Reviere im weltweiten Drogen-, Frauen, und Autohandel abgesteckt. »Die meisten Albaner leben mittlerweile vom illegalen Handel.«, sagt der Professor, und der Vater: »Noch nie wurden so viele Drogen in Albanien genommen wie heute! Ich bin froh, dass meine Kinder erstmal weg sind.« Die anderen Kinder der albanischen Demokratie schluckt das ganze Jahr über das Terrassencafé vor der Akademie. Während hinter der hellen Fassade die Kunst in der wirtschaftlichen und politischen Witterung erodiert, sitzen sie draußen unter einer brühwarmen Dunstglocke, trinken Cafe und drehen Zigarettenschachteln auf einer Spitze statt der Daumen. Andernorts siehts nicht besser aus: Häuser brechen einfach zusammen, die einzige Autobahnbrücke auf der einzigen Autobahn von fünf Kilometer Länge zum Flughafen Tiranas vermutlich auch bald bei den vielen Bruchstellen, die sie aufweist. Einige Wochen später im August versuchen Bauarbeiter sie vergeblich instand zu setzen. Die übrigen Sand- und Schlaglochpisten fordern den Autofahrer heraus wie wilde Wasser den Kanuten. Wer denkt bei solchem infrastrukturellen Desaster schon an Kunst? Bisher hat nur die realsozialistische albanische Liberté, eine bewaffnete Frau, im überlebensgroßen Steinmosaik an der Stadthalle am Skanderbegplatz die offensichtlichen Auflösungserscheinungen überlebt. Die Nationalgalerie zwar auch, aber die bleibt meistens geschlossen wegen Personalmangels.
Als am Abend bei der Fondazione Vejla in einem der neuen Geschäftshäuser Tiranas in der Kellergalerie eine Ausstellung eröffnet, treffen sich in den wie ein Panzerschrank gesicherten Räumen ein halbes Dutzend albanischer Künstler, längst alle in den Fünzigern wie Edi Hila. Der Buena Albanista Social Club der noch lebenden Künstler begutachtet das Werk eines Jüngeren. Bilder eines Architekten, dem vor drei Jahren die Bauaufträge ausgingen und der deshalb zu malen begann. Bunte Dekorationen in einer Mischung aus Kubismus und russischem Rayonismus. Der letzte Kunsthistoriker unter den Albanistas hat im vorletzten Jahr das Land gen Kanada verlassen. Seither wechselt sich Edi Hila mit seinem Bildhauerkollegen Thoma Thomai an der Akademie mit den Vorlesungen zur Geschichte der Kunst ab. Und auch die Tage der Kunstkritik scheinen gezählt: Allein anwesend ist das staatliche Fernsehen mit einer vielleicht 60jährigen, tüdeligen Journalistin in einem grauen Kostüm mit hellblauer Hemdbluse - zeitlos sozialistisch. Immerhin ist die Dame mehr am Künstler interessiert als an der amerikanischen Botschafterin Marie Salino. Die Diplomatin, die selbst gelegentlich malt und sich in den vergangenen fünf Jahren eine Sammlung der anwesenden Altherrenkünstlerriege angelegt hat, möchte am letzten Amtstag vor ihrer Versetzung die Privatsammlung noch vergrößern. Nachdem der Kosovokrieg Albanien ins Zentrum Europas und der Weltöffentlichkeit gerückt hat, hat der Kunstmarkt einen neuen Exoten entdeckt. Höflich machen die Künstler der Sammlerin ihre Aufwartung, wechseln ein paar nette Worte. Edis Kollege Thoma sagt anschließend: »Spaß macht das nicht, aber vielleicht nimmt sie ja noch eine Skulptur von mir mit nach Amerika.« Der Bildhauer hat sein Atelier in Edi Hilas Haus und bereits monumentale Arbeiten für den Staat geformt. Kriegsdenkmäler, die sehr an ähnliche realsozialistische Objekte in anderen Ostblockländern erinnern. Heute arbeitet er fast nur noch abstrakt mit albanischem Holz und italienischem Marmor. Schält und haut aus dem Material Formen mit hohem haptischen Reiz, die auch der Amerikanerin gefallen. Der Ruf als Mäzenatin der zeitgenössischen albanischen Kunst ist der Botschafterin bereits nach Hause vorausgeeilt. Für Edi, Thoma und ihre Kollegen kündigt sich da später Ruhm an wie für die wiederentdeckten, vergreisten kubanischen Son-Musiker des Buena Vista Social Club. Für ihr jahrzehntelanges Experimentieren und Arrangieren in künstlerischer wie politischer Isolation. Erstmals waren albanische Künstler, unter ihnen Edi Hila, letztes Jahr in einer Sektion auf der Biennale in Venedig vertreten. Titel ihrer Schau: »Albanien heute. Die Zeit des ironischen Optimismus.«
Als der Vernissagenabend sein hochprozentiges Ende in der Bar im First-Class-Hotel Dajti mit Johnny Walker findet, und sich ausschließlich dickbäuchige Männer im Kampftrinken, Singen und Bauchtanzen üben, kommentiert Edi Hila anderntags müde lächelnd am Frühstückstisch: »Dieser Abend war ein Beispiel völlig aus der Kontrolle geratener kultureller Ästhetik. Jetzt weißt du, warum hier mit Kunst nichts zu machen ist. Oder glaubst du etwa, dass nur einer von denen jemals ein Bild kaufen würde? Die wollen nur ihre dicken Autos und männliche Potenz demonstrieren!« Thoma, der aus seinem Atelier herübergekommen ist, pellt sich einen Apfel: »Dass der Krieg auch für die Kunst ein Segen gewesen sein könnte, werden wir wohl nicht mehr erleben.«
Abends verfolgt Edi Hila im Fernsehen angespannt eine Diskussion mit dem ehemaligen kommunistischen Kulturminister, der auch ihn einst vor die Staatssicherheit zitierte. »Das ist unglaublich, der darf immer noch reden!«, braust er auf. Mehr Monumente müssten her, sagt der Ex-Minister. Der Professor mit 140 Dollar Monatsgehalt rauft sich die kurzen grauen Haare: »Die Leute haben noch nicht einmal genug zu essen, aber die haben Geld für Monumente.« Einen Moment schwenkt sein Blick auf das expressionistische Bild seiner Frau an der Wand, als sie mit dem gemeinsamen Ikarus schwanger war. »Als hätte es nur die Monumentalplastik gegeben. Niemand redet mehr von dem Austausch albanischer und italienischer Künstler. Metaphysik und Futurismus, das hat es auch in unserer Geschichte gegeben.«
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