2017: Das Jahr der Europäer und Populisten?

Politische Wegscheide Folgt auf das Jahr des Brexits und Trump ein weiteres historisches Jahr der Populisten? Oder können mit einer europäischen Gesinnung auch Wahlsiege eingefahren werden?

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Am 23. April wird in Frankreich gewählt. Rechtspopulistin Marine Le Pen wirbt für ein Referendum über den EU-Austritt
Am 23. April wird in Frankreich gewählt. Rechtspopulistin Marine Le Pen wirbt für ein Referendum über den EU-Austritt

Foto: Jeff J Mitchel/AFP/Getty Images

Ende der 1960er vertraten die Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset and Stein Rokkan den Standpunkt, dass die Parteiensysteme Westeuropas sich seit den 1920er Jahren in einer Art gefrorenem Zustand befanden. An den zentralen Konfliktlinien, die Gesellschaft und Politik unterteilten, hatten laut den Autoren in diesem Zeitraum nur geringfügige Änderungen stattgefunden. Wie kaum eine andere Behauptung sollte diese die Politikwissenschaft in Bewegung bringen. In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten setzten sich Politologen daran anhand einer Vielzahl von Studien und Analysen diese Hypothese zu belegen oder zu widerlegen.

Ein Blick auf die politischen Kräfteverhältnisse nach dem Fall der Berliner Mauer zeigt jedoch auf, dass ein zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Lipset und Rokkans Text ins Koma gefallener politikinteressierter Patient nach dem Aufwachen zwei oder gar drei Jahrzehnte später die Parteiensysteme Westeuropas weiterhin problemlos wiedererkannt hätte. 1994 erhielten zum Beispiel die beiden deutschen Volksparteien noch fast 80 Prozent der Stimmen. Bis auf die in den 80er Jahren empor gekommenen Grünen erschien das westdeutsche Parteiensystem weiterhin ein Abbild der 50er Jahre zu sein. Bei den niederländischen Nachbarn kamen die großen drei Parteien (der christdemokratische CDA, die sozialdemokratische PvdA, sowie die liberale VVD) 2003 noch auf 74 Prozent der Stimmen, nur marginal unter dem Wert von 76 Prozent bei der Wahl im Jahre 1981.

Nur anderthalb Jahrzehnte später erscheinen diese klaren Verhältnisse jedoch eine vage Erinnerung aus grauer Vorzeit zu sein. 2009 konnten Union und SPD nur 57 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. In den Niederlanden sank der kombinierte Wert der “Großen Drei” ihrerseits auf einen historischen Tiefpunkt von 39 Prozent in der diesjährigen Parlamentswahl. Es scheint also Tauwetter in der europäischen Politik und seinen gefrorenen Parteiensystemen zu herrschen.

You never want a serious crisis to go to waste

Diese Entwicklung ist mit dem Aufstieg einer bestimmten Parteienfamilie einhergegangen: den Rechtspopulisten. Insbesondere der Doppelschlag der Euro- und Migrationskrisen scheint die politische Landschaft Europas im letzten Jahrzehnt durcheinander gewirbelt zu haben. Populisten eilen von einem historischen Hoch zum nächsten – dies ist gerade bei Populisten der rechten aber manchmal auch der linken Spielart (siehe Griechenland und Spanien) der Fall.

Der Freiheitliche Norbert Hofer schaffte es fast in die Hofburg einzuziehen (nachdem die FPÖ-Kandidatin sechs Jahre zuvor in der Präsidentschaftswahl auf nur 15 Prozent kam), mit der AfD steht eine rechtspopulistische Partei trotz heftigster interner Querelen vor dem erstmaligen Einzug in den Bundestag (während sie am Ende des Jahres höchstwahrscheinlich in 13 von 16 Landesparlamenten vertreten sein wird) und Marine Le Pen wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einem historischen Ergebnis für den Front National in die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahlen einziehen – nachdem ihre Partei in der letzten Europawahl in Frankreich bereits auf dem ersten Platz landete und in den Regionalwahlen im Dezember 2015 zudem ihren Stimmenanteil von 11,4 auf 27,7 Prozent steigern konnte.

Europa als Erfolgsrezept

Andererseits werden Erfolge aber auch zunehmend von Parteien und Akteuren gefeiert, die keinen Hehl aus ihrer Unterstützung des europäischen Einigungsprojekts machen (Democraten 66 und GroenLinks in den Niederlanden, van der Bellen in Österreich) beziehungsweise ebenso wie die Populisten einer Klassifizierung innerhalb des klassischen links/rechts-Schemas trotzen (siehe Macron in Frankreich). Man kann sich nur schwer dem Eindruck widersetzen, dass die Konflikte in der Politik also nicht mehr zwischen den alten sozialdemokratischen und konservativen Lagern, sondern zwischen “kosmopolitischen” pro-Europäern auf der einen und traditionellen, anti-elitären und anti-europäischen Kräften auf der anderen ausgetragen werden.

Ein wenig verloren wirken da die “alten” Akteure und ehemaligen Volksparteien-Schlachtschiffe mit ihren Wurzeln in der Nachkriegsära, die für ein halbes Jahrhundert die westeuropäische Politik formten. Seien es PvdA oder CDA (erstere fuhr 2017 das schlechteste, letztere das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte ein) in den Niederlanden oder die Kandidaten der Volksparteien in den österreichischen und französischen Präsidentschaftswahlen – sie erscheinen dem Betrachter wie Relikte einer längst vergangenen Ära, die sich dank des politischen Klimawandels auf dem Pfad in Richtung Extinktion befinden.

2017 könnte somit einerseits ein historisches Jahr für Populisten werden aber gleichzeitig auch eine Art Zeitenwende darstellen, aus der die aus den diesjährigen Wahlen hervorgehenden Regierungen noch stärker den populistischen Ansichten zum Thema Europa, Einwanderung und nationaler Identität widersprechen werden als ihre Vorgänger. Die entscheidende Frage für die ideologische Unterteilung von Gesellschaft und Politik ist somit nicht mehr welche Rolle dem Staat in der Wirtschaft zukommt, sondern “wie hast du’s mit Europa und Multikulti”.

In den Niederlanden positionierten sich die sozialliberalen Democraten 66 (D66) ganz klar als pro-europäische Partei und konnten ihre Anzahl der Sitze in der Zweiten Kammer um mehr als die Hälfte erhöhen (von 12 auf 19). Sollte Rutte eine Minderheitsregierung umgehen wollen, wird er um D66 als Koalitionspartner nur schwer herumkommen. Auf der Oppositionsseite scheint GroenLinks das Zepter der führenden Kraft der politischen (Mainstream-) Linken von der PdvA übernommen zu haben. Unter der Führung ihres Vorsitzenden mit marokkanisch-indonesischen Wurzeln, Jesse Klaver, versuchten auch sie sich klar als Anti-Wilders Partei zu etablieren anstatt Teile seines Programms in abgeschwächter Form zu übernehmen – ein Weg, der sich auszahlte, denn ihr Stimmenanteil konnte sich gegenüber der letzten Wahl fast vervierfachen.

In Frankreich wird aller Voraussicht nach mit Emmanuel Macron ein Kandidat die Präsidentschaftswahl gewinnen, der dem europäischen Projekt neues Leben einhauchen möchte und Angela Merkel explizit für ihre Flüchtlingspolitik lobt. Und in Deutschland könnte mit Martin Schulz ein überzeugter Europäer an die Macht gelangen, der sich den Kampf gegen Populismus und Nationalismus auf die Fahnen geschrieben hat.

Über 2017 hinaus...

Eine natürliche Folge dieser Entwicklungen könnte eine weitere Verhärtung der Fronten zwischen beiden Seiten sein, in dem der politischen Mitte der Sauerstoff entzogen wird. Wilders’ enttäuschendes Ergebnis als Anfang vom Ende des rechtspopulistischen Aufstiegs zu interpretieren wäre unangebracht. Vielmehr zeigt es die Grenzen einer übermäßig radikalen Botschaft auf (die PVV forderte immerhin in ihrem offiziellen Wahlprogramm das Verbot des Korans und die Schließung aller Moscheen) – eine Lehre die andere gleichgesinnte Politiker sich zu Herzen nehmen werden. Dass die AfD trotz interner Streitigkeiten und fragwürdigen Standpunkten bestimmter Mitglieder zum Thema Holocaust und Hitler weiterhin konstant bei zehn Prozent steht, ist ein Indikator wie breit – wenn nicht gar unüberwindbar – die Kluft zwischen ihren Wählern und den etablierten Parteien ist. Diese Wähler haben eine neue politische Heimat gefunden, die sie auch im Falle des vollkommenen Abklingens der Flüchtlingskrise nicht verlassen werden.

Es ist außerdem schwer vorstellbar, dass eine rot-rot-grüne Bundesregierung (so unwahrscheinlich sie auch sein mag), die mehr Europa, einen schnelleren Familiennachzug von Flüchtlingen und weniger Grenzschutz propagiert nicht der AfD die Gelegenheit geben wird, neue Erfolge einzufahren und interne Streitigkeiten in den Hintergrund verschwinden zu lassen. Eine Große Koalition mit einer selbstbewussteren SPD dürfte die Bundesregierung gleichfalls in eine Richtung ziehen, die populistischen Wählern gerade bei gesellschaftspolitischen Fragen nicht unbedingt gefallen wird. Auch Wilders wird aller Voraussicht nach die Möglichkeit besitzen, sich von seinen selbst zugefügten Wunden zu erholen, wenn die neue Regierung eben nicht den von Rutte im Wahlkampf propagierten harten und illiberalen Kurs beim Thema Integration und Identität dank der Bedenken des wahrscheinlichen Koalitionspartners D66 umsetzen kann. Sowohl die Populisten als auch ihre Widersacher werden somit in den nächsten Jahren auf ein politisches Umfeld stoßen, das ihnen elektorale Erfolge ermöglichen wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Philipp Adorf

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn, Fokus auf die Republikanische Partei der USA sowie der Erfolge populistischer Akteure.

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