Im Wochenendmagazin der Berliner tageszeitung gibt es eine Rubrik mit der schönen Bezeichnung "Letzte Fragen". Darin versuchen Leserinnen und Leser, mehr oder weniger ernsthafte Antworten auf alltägliche Merkwürdigkeiten zu finden, die von anderen Leserinnen und Lesern in gesellschaftsrelevanter Weise präsentiert werden. So geht es beispielsweise darum herauszufinden, weshalb sich Matratzengeschäfte zumeist an Straßenecken, die Bananentasten an den Obstwaagen im Supermarkt stets an erster Stelle befinden und ob auch Hunde in Hundehaufen treten.
Unter genau diese Rubrik könnte auch die Frage fallen, was man sich unter einem "Deutschlandkenner" vorzustellen habe. Am einfachsten ließe sie sich wohl durch Analogiebildung angehen, erinnert die Zusammensetzung des Wortes mitunter an "Frauenversteher", "Kreisverkehrblinker" und "Sockenbügler". Es ist jedoch zu vermuten, dass die Berliner Autorin und Philosophin Rita Kuczynski bei der Untertitelung ihres neuen Interviewbandes, in dem "Deutschlandkenner aus Mittel- und Osteuropa, Frankreich, Großbritannien und den USA über das vereinte Deutschland" sprechen, diese Bedeutungsassoziationen nicht im Sinn hatte.
Was aber könnte sie dann gemeint haben? Welche Kompetenzen oder Erfahrungen sind notwendig, um als "Deutschlandkenner" fungieren und damit kompetent Auskunft geben zu können, ob beispielsweise "die Ostdeutschen heute selbstbewusster und weniger nostalgisch (wären), wenn sie die gesellschaftliche Transformation ohne die BRD hätten bewältigen müssen"? Leider bleibt Kuczynski in ihrer umfangreichen Einleitung zu den Interviews hierauf eine Antwort schuldig. Vermutlich sogar unbewusst: Das Wort suggeriert zweifelsfreies Expertentum, das jedes Nachfragen überflüssig erscheinen lässt. Damit besitzt der "Deutschlandkenner" weniger eine beschreibende als eine normative Funktion. Sein Wort hat Gewicht in diesem Wahrheitsspiel. Nicht, weil er bestimmte Kenntnisse besitzt, soll er sie offenbaren; vielmehr werden ihm diese in dem Moment der Äußerung zugeschrieben.
Natürlich soll nicht in Frage gestellt werden, dass der ehemalige estische Staatspräsident Lennart Meri oder der polnische Schriftsteller Adam Krzeminski zur Geschichte und Gegenwart Deutschlands in Europa etwas zu sagen hätten - im Gegenteil! Doch Kuczynskis Bemühen, ihre Interviews vorab mit Autorität aufzuladen, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Es handelt sich eben nicht um repräsentative Experteninterviews, die objektive Erkenntnisse produzieren, wie die Autorin die Rezeption verstanden wissen will, sondern um höchst subjektive und partikulare Wahrnehmungen und Meinungen von sehr unterschiedlicher Qualität. Wer den Interviewband in der Hoffnung liest, substantiell Neues zu "lieb gewonne(n) Klischees aus der Zeit vor als auch nach der deutschen Einheit" zu erfahren, wird enttäuscht, gerade auch, weil sich Kuczynski - im Anschluss an ihre zwei vorangehenden Bücher - vor allem auf Ostdeutschland konzentriert. Ihre diesbezüglichen Fragen sind zudem wertend und suggestiv.
So setzt zum Beispiel die oben zitierte Frage nach dem Charakter "der Ostdeutschen" diese als festes Kollektiv voraus, dem ein geringes Selbstbewusstsein und nostalgische Anwandlungen zu eigen sind. Dass derart gestellte Fragen nicht selten ähnliche Antworten hervorbringen, überrascht daher keineswegs. Ihr standardisierter Charakter gibt eine bestimmte Richtung der Beantwortung vor. Die Erklärung für den von Kuczynski festgestellten Konsens der Gesprächspartner in vielen Bereichen, ist wohl nicht so sehr tatsächlicher Erkenntnis, sondern eher der Art der Fragestellung und der Auswahl der zu Interviewenden zu verdanken. Zur Darstellung der unterschiedlichen Wahrnehmungen zum Vereinigungsprozess hätte es demgegenüber offener Interviews ohne eine vorgegebene Fragenstruktur bedurft, die dadurch weniger vergleichbar gewesen wären, aber neue Perspektiven ergeben hätten.
Trotz all dieser methodischen Schwächen können die Interviews selbst zu einem kurzweiligen und anregenden Lektüreereignis werden, sofern man sie als Ausdruck individueller, geschichtlich und kulturell mitbestimmter Wahrnehmungen versteht. Dann kommt auch der Auswahl der Gesprächspartner eine bestimmte Bedeutung zu. Als weltoffene Intellektuelle, die sich zu Zeiten des Kalten Krieges zumeist in systemkritischer Opposition befanden und zum Teil mit Berufsverbot belegt waren, geben sie Auskunft über die Zusammenarbeit mit Oppositionellen in der DDR. Besser gesagt: über das weitgehende Desinteresse beider Seiten an einem fruchtbaren Austausch: "Die Opposition in Polen und in der DDR konnte keine gemeinsame Sprache haben, weil wir ungleichzeitig waren. ... Wie hätte ein polnischer Arbeiter, der im Sommer 1980 einen Generalstreik zu einer Messe unter freiem Himmel umfunktionierte, mit einem DDR-Intellektuellen, der für Rosa Luxemburg und ihre Freiheit des Andersdenkenden schwärmte, eine gemeinsame Sprache finden sollen?" (Adam Krzeminski)
Die BRD-Fixiertheit der DDR-Opposition, die im befreundeten Ausland gesehen wurde und gemeinsames politisches Handeln verhinderte, ist für die gegenwärtige Situation Ostdeutschlands bedeutsam. Viele Interviews lassen den Verdacht aufkommen, dass gerade das Fehlen einer gemeinsamen und bewusst gestalteten politischen Vergangenheit vor 1989 die viel beschworene Brückenfunktion Ostdeutschlands zu den neuen mittel- und osteuropäischen Staaten in der EU so schwierig macht. In dieser europäischen Perspektive - genauer: in der Verdeutlichung ihres Fehlens in der deutschen Debatte - liegt die unzweifelhafte Stärke des Buches. Gesine Schwans im Vorwort geäußerte Beobachtung einer "Entkopplung im Denken" macht darauf aufmerksam: "Die Folgen der deutschen Einheit lasten so schwer auf unserem Land und verbrauchen alle kreativen und materiellen Problemlösungskapazitäten, so dass für den weiteren Blick auf die neue Topographie der europäischen Landkarte kaum Zeit und Kraft übrig bleibt."
Für diesen, auch nach der EU-Osterweiterung kaum vorhandenen europäischen Blick auf Deutschland und dessen Befindlichkeiten ist Rita Kuczynski zu danken. Wünschenswert wäre nun jedoch ein Interviewband, in dem nicht staatstragende Intellektuelle, sondern Bürgerinnen und Bürger aus den europäischen Ländern und Regionen ihre Wahrnehmungen, Ansichten, Vorurteile und Ideen äußern können, um den jeweiligen gedanklichen und sprachlichen Rahmen, in dem Europa erscheint, zu verstehen. Auch wenn das vereinte Europa "von oben" aufgebaut wird, so hat es allein "von unten" Bestand. Und für die sogenannten "Deutschland- oder Europakenner" bleibt neben Christiansen immer noch das Wochenendmagazin der tageszeitung.
Rita Kuczynski: Ostdeutschland war nie etwas Natürliches. Deutschlandkenner aus Mittel- und Osteuropa, Frankreich, Großbritannien und den USA über das vereinte Deutschland. Mit einem Vorwort von Gesine Schwan . Parthas, Berlin 2005, 308 S.,
18 EUR
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