Die SPD ist in Berlin mit einem tiefblauen Augen noch einmal davon gekommen. Sie wird mit Michael Müller auch weiterhin den Regierenden Bürgermeister stellen. Man reibt sich die Augen, aber es ist tatsächlich so: Selbst mit den äußerst spärlichen 21,6 Prozent der Stimmen, die die SPD errang, kann man in Berlin stärkste Fraktion werden und den Regierungschef stellen. Es ist das schlechteste Ergebnis, dass die Sozialdemokraten je errangen, noch schlechter als dasjenige von 1999. Die SPD kam damals mit ihrem Spitzenkandidat Walter Momper auf 22,4 Prozent der Stimmen. Bereits im Wahlkampf hatte die Süddeutsche Zeitung hellsichtig getitelt: „Apokalypse Momper“.
Und 2016? Die Schlagzeile „Apokalypse Müller“ ist bisher nicht veröffentlicht worden. Sie wäre wohl auch fehl am Platz, trotz des dramatisch schlechten Abschneidens der Sozialdemokraten. Man kann dem Regierenden Bürgermeister, der erst seit 18 Monaten im Amt ist, sicher einiges vorwerfen. Eines aber nicht: dass er einen schlechten Wahlkampf gemacht hat oder dass die Wähler nicht gewusst hätten, für welche Politik er steht. Nein, die bittere Erkenntnis für die Sozialdemokraten, die – so lange ist das noch gar nicht her – Wahlergebnisse deutlich über 35 Prozent gewohnt waren, lautet: Mehr war einfach nicht drin.
Die Gründe für den Absturz liegen tiefer als nur in der Personalie Müller oder dem Zustande der Hauptstadt-SPD. Dort vollzieht sich eine Veränderung des Parteiensystems, die im kommenden Jahr auch den Bundestag erfassen wird. Im Berliner Landesparlament werden künftig sechs Parteien sitzen. Die SPD kam auf 21,6 Prozent der Stimmen, die CDU auf 17,6 Prozent, die Linkspartei auf 15,6 Prozent, die Grünen auf 15,2 Prozent, die AfD auf 14,2 Prozent und die FDP auf 6,7 Prozent. Gleiches werden wir im kommenden Herbst im Reichtagsgebäude erleben: Wenn man die CSU als eigenständige Partei zählt, dann besteht durchaus die Aussicht, dass dort sieben verschiedene Parteien vertreten sein werden. Die Zeit der großen Volksparteien ist unwiderruflich vorbei. Die Politik wird pluralistischer werden, die Bündnisoptionen komplizierter – aber das muss nicht unbedingt schlecht sein. Im Gegenteil.
Und noch eine Lehre gilt es aus dem Wahlergebnis zu ziehen: Die historisch etablierten Bündnisvarianten, an die sich die Bundesrepublik in den vergangenen sieben Jahrzehnten gewöhnt hat und die nur widerwillig um Grüne und Linkspartei erweitert wurden, sind Vergangenheit. Selbst eine „große Koalition“ hat keine Mehrheit mehr im Abgeordnetenhaus. Die damit verbundene Unsicherheit mag einige irriteiren. Aber eigentlich ist das eine gute Nachricht. Es hat noch keinem demokratischen System auf Dauer gut getan, wenn die Machtverhältnisse zu eindeutig – weil erwartbar – geregelt sind. Berlin ist mit dem vergangenen Wahlsonntag zum Vorreiter dieser Entwicklung geworden
In Berlin läuft nun alles auf Rot-Rot-Grün hinaus. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller würde zwar am liebsten auf die Linkspartei verzichten und allein mit den Grünen ein Bündnis schmieden. Aber da haben ihm die Wähler einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es wird die zweite rot-rot-grüne Regierung in dieser Republik sein. Und nicht nur das: Es wird auch ein besonderes politisches Experiment werden. Denn in der Berliner Konstellation gibt es keinen großen oder kleinen Partner, dafür liegen die Wahlergebnisse zu eng beieinander. Wer Koch ist und wer Kellner ist nicht zumindest nach dem Wahlausgang nicht offenkundig.
Also wird sich diese Koalition – wenn sie denn zustande kommt – nicht über Führungspersönlichkeiten definieren können, so wie das noch Klaus Wowereit mit seiner rot-roten Koalition gelungen ist. Mit Charisma ist ja nicht nur Michael Müller nicht geschlagen; das gleiche gilt für die Spitzengrüne Ramona Pop und den Linken-Chef Klaus Lederer. Es wird also nur über Inhalte gehen, oder anders gesagt: über die Formulierung eines rot-rot-grünen Projekts. Ob es gelingt, ist ungewiss. Sicher ist dagegen: Wenn dies in Berlin nicht gelingt, dann wird es 2017 nach der Bundestagswahl wohl erst recht nichts werden.
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