Der erste Lehrer im Staat

Bundespräsident Joachim Gaucks erste Rede als neugewählter Bundespräsident zeigt, dass er sich vor allem als Lehrmeister der Demokratie versteht. Doch das ist nicht genug

Nun ist Joachim Gauck gewählt und fast möchte man sagen: endlich. Die Debatte über die Eignung des neuen Bundespräsidenten in den vergangenen Tagen war zwar interessant. Sie wurde auch zu recht so intensiv geführt. Die Republik, dass hat man in den vergangenen 30 Tagen spüren können, sehnt sich nach einem streitbaren Bundespräsidenten. Doch am Ende ging den Diskutanten doch arg die Luft aus.

Nun hat Gauck nach seiner Wahl durch die Bundesversammlung eine erste kurze Rede gehalten und die leerlaufende Debatten-Maschine mit neuem Treibstoff versorgt. Was er sagte, war zwar nicht spektakulär, aber doch programmatisch. Dass er sich in seiner teilweise sehr persönlich gehaltenen Rede ausführlich auf den 18. März vor 22 Jahren bezog, als er in die Volkskammer gewählt wurde, war da noch am wenigsten überraschend. Er habe sich damals geschworen, er werden "niemals eine Wahl versäumen", sagte Gauck und belegte damit vor allem seinen Hang zum Pathetischen.

Intellektuelles Vorbild

Interessanter war das schon sein Hinweis auf den Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, der in den siebziger Jahren den Begriff vom Verfassungspatriotismus geprägt hat und von dem der Satz stammt: "Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin." Gauck zitierte in seiner Rede zwar eine andere Sternberger-Äußerung ("Ich wünschte mir ein Bürger zu sein, nichts weiter, aber auch nichts weniger als das"); doch liegt auf der Hand, dass Gauck, der in den vergangenen Wochen von seinen Unterstützern ständig als "Lehrmeister der Demokratie" angepriesen wurde, in ihm offenkundig ein intellektuelles Vorbild sieht.

Dass sich das neugewählte Staatsoberhaupt auch selbst als jemanden begreift, der den abgeschlafften, demokratiemüden Bürger die Leviten lesen muss, belegte er mit Sätzen wie dem, das er "Hoffnung auf eine Annäherung zwischen Regierenden und der Bevölkerung" habe. Da fragt man sich unwillkürlich, ob Gauck wirklich glaubt, mit ermahnenden Worten von der Demokratie-Kanzel herab sei diese Kluft zu überbrücken. Denn die wachsende Entfremdung hat eben nicht nur damit zu tun, dass den Bürgern angeblich das Bewusstsein für das "Glück der Freiheit" fehlt. Es hat noch viel mehr damit zu tun, dass sich viele Menschen mit sozialen Problemen von der Politik alleine gelassen fühlen. Zu der sozialen Dimension des Freiheitsbegriffs war von Gauck bisher nichts zu hören, auch am Sonntag nicht. Er ließ die Chance ungenutzt verstreichen. Und es ist wohl nicht zuletzt dieser eindimensionale Freiheitsbegriff, dem der neue Bundespräsident es zu verdanken hat, dass es bei seiner Wahl so viele Enthaltungen gab. 108 Wahlmänner und -frauen, zum allergrößten Teil aus der schwarz-rot-gelb-grünen Präsidentenkoalition, wollten Gauck ihre Stimme nicht geben.

Lehrer oder Denker?

Gauck war fast am Ende seiner Rede, da sagte er einen Satz, der tatsächlich aufhorchen ließ: Das frischgewählte Staatsoberhaupt kündigte fast nebensächlich an, er werde sich "neu auf Themen und Probleme" einlassen. Haben die Debatten über seine Äußerungen zu Occupy oder zu Thilo Sarrazin vielleicht doch Eindruck bei ihm hinterlassen? War das eine Reaktion darauf, dass Gauck sich bei diesen Themen eher vom konservativen Affekt anstatt vom Intellekt hat leiten lassen? Man wünscht es sich jedenfalls. Denn dieses Land braucht trotz der unterdurchschnittlichen Amtsvorgänger nun wirklich keinen ersten Oberlehrer im Staat. Ein nachdenkliches Staatsoberhaupt würde vollkommen genügen.

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Geschrieben von

Philip Grassmann

Chefredakteur

Philip Grassmann ist seit 2008 Chefredakteur des Freitag. Zuvor arbeitete er neun Jahre als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Berlin. Von 1994 bis 1998 war Grassmann Redakteur und später Korrespondent der Welt. Er studierte Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin sowie der London School of Economics und ist Absolvent der Axel-Springer Journalistenschule.

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