Notstand? Unsinn!

Gespräch Die Politik hat verschlafen, für einen guten Umgang mit Flüchtlingen zu sorgen und erschwert ihnen eine schnelle Eingliederung in die Gesellschaft – sagt Tom Koenigs
Ausgabe 35/2013

Herr Koenigs, was läuft schief beim Asylrecht?

Eigentlich alles. Beim europäischen Asylrecht läuft kaum etwas so, wie es müsste. Der Kontinent hat aus seiner Geschichte ganz offensichtlich nichts gelernt. In Europa wird immer der Schutz der Grenzen vor den Schutz der Flüchtlinge gestellt. Es gibt weder einen einheitlichen Standard beim Asylverfahren noch eine einheitliche Verteilung der Lasten. Ein Beispiel: Ein Afghane hat in Griechenland eine einprozentige Chance angenommen zu werden. In Deutschland sind es 50 Prozent und in Schweden sogar 80. Europa ist ein Fluchtpunkt, aber es will das nicht wahrhaben. Kein Wunder, dass es kein vernünftiges Instrumentarium gibt.

Die Flüchtlingszahlen steigen seit zwei Jahren steil an. Hat die deutsche Politik das Thema verschlafen?

Es gab in den neunziger Jahren Zeiten, da hatten wir hierzulande fünfmal so viele Asylbewerber wie heute. Die Zahl ist dann sehr stark zurückgegangen und ist lange auf niedrigem Niveau geblieben. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Zahl aber wieder verdoppelt. Das ist zwar mehr als vorher, aber immer noch deutlich weniger als in den neunziger Jahren. Dass der Notstand ausbricht, ist Unsinn.

Ist es noch zeitgemäß, Flüchtlinge in Asylbeweberheimen zu konzentrieren, anstatt ihnen ein ganz normales Wohnrecht einzuräumen?

Leider sind aus den rassistischen Pogromen wie in Hoyerswerda oder Rostock nicht die richtigen Konsequenzen gezogen worden. Es war und ist falsch, Asylbewerber in sogenannten Heimen unterzubringen. Sie müssten eigentlich das Recht bekommen, in ganz normalen Wohnungen zu leben. Denn nur so ist eine schnelle Eingliederung in die Gesellschaft möglich. Das ist deshalb nicht gemacht worden, weil es den Willen zur Integration nach wie vor nicht gibt. Die Flüchtlinge werden als leidige Bittsteller gesehen, nicht als Menschen in Not. Wir sind ein Einwanderungsland – wollen es aber nach wie vor nicht sein.

Wie kann man das ändern?

Zum Beispiel, indem die Kommunen ein Amt für Integration schaffen, dass sich um die Flüchtlinge kümmert. Das Motto muss lauten: Das sind zukünftige Bürger. Und nicht: Ach, die gehen ja sowieso bald wieder. Wir haben keine Willkommenskultur. Und wir schaffen uns zusätzlich große Probleme durch das Arbeitsverbot für Asylbewerber.

Wird jetzt Wahlkampf auf dem Rücken von Flüchtlingen gemacht?

Na ja, dass die örtliche Bundestagsabgeordnete sich vor Ort in Hellersdorf gezeigt hat, finde ich ganz normal. Das ist ja schließlich ihr Wahlkreis, den sie im Bundestag vertritt. Aber ich würde mir fast wünschen, dass es sich bei dem Thema nur um ein Wahlkampfthema handelt. Dann wäre es nämlich am 22. September vorbei damit. Ich befürchte aber, dass wir ein großes Problem mit rechtsextremem, ausländerfeindlichem Gedankengut haben, das weit in die bürgerlichen Schichten hineinreicht.

Das Gespräch führte Philip Grassmann.

Tom Koenigs ist Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und Bundestagsabgeordneter der Grünen

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Geschrieben von

Philip Grassmann

Chefredakteur

Philip Grassmann ist seit 2008 Chefredakteur des Freitag. Zuvor arbeitete er neun Jahre als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Berlin. Von 1994 bis 1998 war Grassmann Redakteur und später Korrespondent der Welt. Er studierte Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin sowie der London School of Economics und ist Absolvent der Axel-Springer Journalistenschule.

Philip Grassmann

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